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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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waren ihm vertraut und lieb. Trotzdem dachte er nicht daran, sie zu streicheln oder ihr beruhigend die Hand auf das Knie zu legen. Es war die Schwester, die ihre Hand hielt, während sie preßte. Sie wurde zu einer Patientin, die er unter Aufwendung all seiner technischen Fähigkeiten versorgen mußte. Mehr denn je empfand er es als seine Pflicht, seine Gefühle im Zaum zu halten.
    Nach einer Weile stand ihm der seltsame Moment, den er in ihrem Schlafzimmer erlebt hatte, wieder vor Augen. Er fühlte sich, als ob er sich vom Schauplatz der Geburt entfernte. Wieder war er anwesend und doch zugleich an einem anderen Ort, von dem aus er alles aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Sorgfältig sah er sich einen sehr präzisen Dammschnitt setzen. Ein guter Schnitt, dachte er, als das Blut in einer sauberen Linie hervorquoll, und er vermied es, an die Situationen zu denken, als er dieses Fleisch in sexueller Erregung berührt hatte.
    Der Kopf zeigte sich. Nach drei weiteren Preßwehen war er ganz zu sehen, und der Körper glitt in seine wartenden Hände. Das Baby schrie auf, und seine blaue Haut wurde rosig. Es war ein rotgesichtiger, dunkelhaariger Junge mit wachen Augen, der offensichtlich großes Mißtrauen gegen die Lichter und den kalten, klaren Luftzug, der ihm entgegenschlug, hegte. Der Arzt band die Nabelschnur ab und durchtrennte sie.
Mein Sohn
, erlaubte er sich zu denken.
Mein Sohn
.
    »Er ist wunderschön«, bestätigte die Schwester. Sie wartete, während er das Kind untersuchte und dabei dessen regelmäßigen, kräftigen Herzschlag, seine langgliedrigen Finger und den dunklen Haarschopf bewunderte. Dann trug sie das Kind in den anderen Raum, um es zu baden und ihm Silbernitrat in die Augen zu träufeln. Die schwachen Schreie wurden zu ihnen herübergetragen, und seine Frau regte sich. Der Arzt hielt sich in Erwartung der Nachgeburt bereit |24| und atmete mehrmals tief durch.
Mein Sohn
, dachte er wieder.
    »Wo ist das Baby?« fragte seine Frau, als sie die Augen aufschlug und sich das Haar aus dem gerötetem Gesicht strich. »Ist alles okay?«
    »Es ist ein Junge«, erklärte er und lächelte sie an. »Sobald er sauber ist, wird die Schwester ihn bringen. Wir haben einen absolut perfekten kleinen Sohn.«
    Die vor Glück und Erschöpfung ermatteten Gesichtszüge seiner Frau spannten sich unter einer weiteren Kontraktion plötzlich an. Sofort kehrte der Arzt zu dem Stuhl zwischen ihren Beinen zurück und drückte sanft auf ihren Unterleib, um die Plazenta zu bergen. Sie schrie auf, und in diesem Augenblick verstand er, was da gerade geschah. Er war so erschrocken, als hätte sich plötzlich ein Abgrund vor ihm aufgetan.
    »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er sie, »alles ist in bester Ordnung.« Aber als die nächste Wehe heraufzog, rief er: »Schwester!«
    Sie kam sofort, das in weiße Tücher gehüllte Baby auf den Armen.
    »Beim Apgar-Test hat er neun Punkte erreicht«, verkündete sie. »Das ist sehr gut.«
    Seine Frau hob ihren Arm, um das Baby zu nehmen, aber der Schmerz holte sie ein, und sie sank auf die Liege zurück.
    »Schwester?« der Arzt winkte sie heran. »Ich brauche Sie jetzt hier. Es ist dringend.«
    Nach einem Moment der Verwirrung legte die Schwester zwei Kissen auf den Boden, auf die sie das Baby bettete. Dann begab sie sich eilig zum Arzt neben die Liege.
    »Mehr Gas!« Er sah ihre Überraschung, die von einem raschen Nicken des Verstehens abgelöst wurde, als sie seine Anordnung ausführte. Seine Hand lag nun auf dem Knie seiner Frau, so daß er die Erschlaffung ihrer Muskeln spüren konnte, als das Lachgas zu wirken begann.
    |25| »Zwillinge?« fragte die Schwester jetzt leise.
    Der Arzt, der sich nach der Geburt des Jungen etwas entspannt hatte, fühlte sich nun schwach und konnte nur matt nicken. Ruhig, ermahnte er sich, als der nächste Kopf erschien. Du bist hier irgendwo im Raum, dachte er, während er das Geschehen von einem günstigen Platz von der Decke aus verfolgte und seine Hände effektiv und präzise arbeiteten. Dies ist eine Geburt wie jede andere.
    Dieses Baby war kleiner. Es rutschte so schnell in seine behandschuhten Hände, daß er sich mit durchgedrückter Brust nach vorn beugte, um es aufzufangen.
    »Es ist ein Mädchen«, stellte er fest, während er das Kind mit dem Gesicht nach unten wie einen Football in den Armen hielt und ihm so lange auf den Rücken klopfte, bis es aufschrie. Dann drehte er das Neugeborene um und sah ihm ins Gesicht.
    Cremigweiße
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