Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
gewesen.«
    Sie küßte das Baby auf die Stirn, öffnete ihren Mantel und legte es an die Brust. Sofort saugte sich sein Sohn fest, und seine Frau sah lächelnd zu ihm auf. Er nahm ihre freie Hand und dachte an die Abdrücke, die ihre Finger auf seinen Armen hinterlassen hatten, weil sie sich so fest an ihn geklammert hatte. Auch daran, wie sehr er sie hatte beschützen wollen, erinnerte er sich.
    »Ist alles in Ordnung?« fragte sie. »Schatz, was ist mit dir?«
    »Wir hatten Zwillinge«, begann er schleppend und hatte die schwarzen Haarschöpfe und die glitschigen Körper, die in seine Hände rutschten, wieder vor Augen. Tränen stiegen ihm in die Augen. »Einen Jungen und …« Er brach den Satz ab.
    »Oh«, sie verstand ihn nicht. »Auch ein kleines Mädchen? Paul
und
Phoebe. Aber wo ist sie?«
    Ihre Finger sind so schmal wie die Knochen eines kleinen Vogels, dachte er.
    »Mein Schatz«, hob er erneut an. Seine Stimme wurde brüchig, und die Worte, die er sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte, waren verschwunden. Er schloß die Augen, und als er wieder sprechen konnte, brach es aus ihm heraus: »Es tut mir so leid, mein Liebling. Du warst so großartig, so tapfer, aber unsere kleine Tochter ist bei der Geburt gestorben.«

|31| 2. Kapitel
    März 1964
    C AROLINE GILL STAPFTE VORSICHTIG UND UNBE HOLFEN über den Parkplatz. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knöcheln, an einigen Stellen sogar bis zum Knie. Sie trug das in Tücher gewickelte Baby in einem Pappkarton, der früher Probepackungen mit Säuglingsnahrung enthalten hatte. Er war mit roten Buchstaben und puttenhaften Babygesichtern bedruckt, und seine abstehenden Klappen hoben und senkten sich mit jedem Schritt. Über dem fast leeren Parkplatz lag eine unnatürliche, kalte Stille, die sich wie Wellenringe auszubreiten schien, die von einem ins Wasser geworfenen Stein wegstreben. Schnee stob auf und brannte in ihrem Gesicht, als sie die Autotür öffnete. Instinktiv beugte sie sich schützend über die Schachtel und klemmte sie auf dem Rücksitz fest, wo die rosafarbenen Tücher sanft auf die weißen Kunststoffpolster sanken. Das Baby schlief den unerschütterlichen Schlaf eines Neugeborenen. Seine Augen waren nur Schlitze, Nase und Kinn bloße Aufwerfungen in seinem zusammengeballten Gesicht. Man würde es nicht erkennen, wenn man es nicht wüßte, dachte Caroline. Sie hatte den Zustand des Mädchens, nach dem Apgar-Test, mit acht von zehn Punkten bewertet.
    Die Fahrt auf den schlecht geräumten Straßen war beschwerlich. Zweimal geriet der Wagen ins Schleudern, und Caroline wäre fast umgekehrt. Doch die Interstate war besser geräumt, und sobald Caroline sie erreichte, kam sie beständig voran. Die heruntergekommenen Außenbezirke Lexingtons wurden von den hügeligen Ländereien der Pferdefarmen abgelöst. Kilometerlange weiße Zäune warfen lebhafte Schatten |32| auf den Schnee, und Pferde hoben sich dunkel von den Weiden ab. Dichte graue Wolken zogen tief über den Himmel. Caroline machte das Radio an, suchte nach einem Sender und schaltete es wieder aus. Die Welt flog in bekannten Bildern an ihr vorbei, und doch hatte sie sich vollkommen verändert.
    Von dem Augenblick an, da sie Dr. Henrys überraschender Bitte mit einem kaum merklichen Nicken zustimmte, hatte Caroline sich gefühlt, als würde sie in Zeitlupe durch die Luft fallen, dem Aufprall entgegen. Was er von ihr verlangt hatte – daß sie seine neugeborene Tochter fortbringen sollte, ohne seine Frau von ihrer Existenz zu unterrichten –, war unbeschreiblich. Aber der Schmerz und die Verwirrung, die sich bei der Untersuchung auf seinem Gesicht abgezeichnet hatten, und die langsame und benommene Art, mit der er sich danach bewegte, hatten Caroline so gerührt, daß sie seinem Wunsch nachgab. Sie sagte sich, daß er noch früh genug zur Besinnung kommen würde. Er befand sich in einem Schockzustand, und wer konnte ihm das verdenken?
    Als sie kräftiger auf das Gaspedal trat, strömten die Eindrücke der frühen Morgenstunden auf sie ein. Sie dachte an Dr. Henry, der mit solch ruhiger Geschicklichkeit gearbeitet hatte, und erinnerte sich an jede seiner konzentrierten, präzisen Bewegungen. Sie sah das Aufblitzen von schwarzem Haar zwischen Norah Henrys weißen Oberschenkeln und ihren riesigen Bauch, der unter den Wehen wie ein See im Wind wogte. Auch das leise Zischen des Gases und der Moment, in dem sie Dr. Henry mit schriller Stimme und einem von Angst gezeichneten Gesicht gerufen hatte, da
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher