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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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Leben in China, Burma und Laos finden konnte. Manchmal glitten ihr die Bücher aus der Hand, und sie blickte verträumt aus dem Fenster ihrer schlichten kleinen Wohnung am Rande der Stadt. Dann fühlte sie sich in ein anderes Leben versetzt, das exotisch und schwer, aber auch befriedigend war. Die Klinik, von der sie träumte, war einfach und lag in einem wuchernden Dschungel, vielleicht in der Nähe des Meeres. Sie war weiß getüncht und würde wie eine Perle strahlen. Draußen würden die Menschen wartend in einer Schlange stehen oder unter Kokospalmen kauern. Caroline würde sich allein um die Kranken kümmern und sie alle heilen. Sie würde das Leben dieser Menschen und damit auch ihr eigenes verändern.
    Diese Vision hatte sie so vereinnahmt, daß sie sich als Missionsschwester beworben hatte. An einem strahlenden Wochenende im Spätsommer hatte sie den Bus nach St. Louis genommen und war zu einem Bewerbungsgespräch gefahren. Ihr Name wurde auf eine Warteliste für Korea gesetzt. Aber die Zeit verging; das Projekt wurde verschoben und schließlich ganz abgesagt. Caroline wurde in eine andere Liste eingetragen, diesmal für Burma. Und dann, während sie noch immer eifrig ihre Post durchsah und von den Tropen träumte, war Dr. Henry aufgetaucht.
    Es geschah an einem gewöhnlichen Tag, und nichts deutete darauf hin, daß dieser Tag besonders verlaufen würde. Die letzten Wochen des Herbstes, die Zeit der Erkältungskrankheiten, waren angebrochen, und das Wartezimmer war |38| überfüllt. Niesen, erstickter Husten und das Rascheln von Taschentüchern, die aus Hand- und Hosentaschen gezogen wurden, bildeten die Geräuschkulisse. Auch Caroline spürte ein stumpfes Kratzen tief in ihrem Hals, als sie Dr. Bentleys nächsten Patienten aufrief.
    Rupert Dean war ein älterer Herr, dessen Erkältung sich in den nächsten Tagen verschlimmern und zu einer Lungenentzündung auswachsen würde. Diese würde ihn schließlich das Leben kosten. Er saß in einem Ledersessel und versuchte gerade, seine blutende Nase zu versorgen. Als er sich langsam erhob, stopfte er sein Stofftaschentuch in die Tasche, das von leuchtenden Blutflecken gesprenkelt war. Am Empfangstresen angekommen, zeigte er Caroline eine schwach kolorierte Schwarzweißfotografie in einem dunkelblauen Rahmen. Die Frau, die ihr aus dem Bild entgegenblickte, trug einen blassen, pfirsichfarbenen Pullover, ihr Haar war leicht gewellt, und ihre Augen strahlten in einem tiefen Blau. Es war Rupert Deans Frau Esmeralda, und sie war schon seit zwanzig Jahren tot.
    »Sie war die Liebe meines Lebens«, verkündete er so laut, daß die Leute aufblickten und ihn ansahen.
    Die Eingangstür des Bürotrakteswurde geöffnet und brachte die Glasscheiben der Wartezimmertür zum Klirren.
    »Sie ist wunderschön«, bestätigte Caroline, die von seiner Liebe und Trauer so bewegt war, daß ihre Hände zitterten. Sie war nie mit solcher Leidenschaft geliebt worden. Und obwohl sie nun schon fast dreißig Jahre alt war, gab es niemanden, der, wenn sie morgen sterben würde, so um sie trauern würde wie Rupert Dean.
    Sicher war sie, Caroline Loraine Gill, genauso einzigartig und verdiente genausoviel Liebe wie die Frau auf dem Foto des alten Mannes, doch bis jetzt war noch niemand darauf aufmerksam geworden. Weder die Kunst noch die Liebe und nicht einmal ihre aufopferungsvolle Arbeit hatten ihr den Weg zum Herzen eines anderen Menschen geebnet.
    |39| Sie war noch immer damit beschäftigt, sich zu sammeln, als die Tür aufschlug, die das Vestibül vom Wartezimmer trennte. Ein Mann in einem braunen Tweedmantel stand im Türrahmen. Den Hut in der Hand, zögerte er einen Moment und nahm die gelbe Strukturtapete, den Farn in der Zimmerecke und den Metallständer mit den zerlesenen Magazinen in Augenschein. Er hatte braunes Haar mit einem rötlichen Schimmer und ein schmales Gesicht, das einen aufmerksamen und abwägenden Ausdruck trug. Obwohl er nicht vornehm wirkte, lag etwas in seiner Haltung und seinem Benehmen, das ihn von den anderen abhob. Carolines Herz schlug schneller, und ihre Haut kribbelte, als ob ein Nachtfalter sie überraschend mit einem Flügel gestreift hätte, was sie angenehm und gleichzeitig lästig fand. Ihre Blicke trafen sich, und da wußte sie es. Noch bevor er das Zimmer durchquert und seinen Mund geöffnet hatte und bevor er seinen Namen ohne hiesigen Akzent ausgesprochen hatte. Bevor also all das geschah, war sich Caroline einer einfachen Tatsache bewußt: Der Mensch,
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