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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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|7| 1. Kapitel
    März 1964
    E S SCHNEITE BEREITS SEIT MEHREREN STUNDEN, als ihre Wehen einsetzten. Nachdem zuerst nur einige wenige Flocken im trüben, grauen Himmel des späten Nachmittags zu sehen waren, jagte der Wind in den darauffolgenden Stunden den Schnee in Schwaden über ihre Veranda. Als der Sturm zunahm, standen sie Seite an Seite am Fenster und beobachteten, wie die scharfen Böen sich aufbauschten und umherwirbelten, bevor sie sich am Boden zerstreuten. Überall in der Nachbarschaft schienen Lichter auf, und die nackten Äste der Bäume bekamen einen weißen Überzug.
    Nach dem Abendessen wagte er sich in den Sturm hinaus, um von dem Holzstoß, den er im letzten Herbst an die Garage gestapelt hatte, ein paar Scheite zu holen. Die Luft schlug ihm klar und kalt ins Gesicht, und der Schnee in der Einfahrt war längst knöcheltief. Er schüttelte die weichen weißen Kappen von den Scheiten und trug sie ins Haus. Das Anmachholz auf dem Eisenrost fing sofort Feuer, und für eine Weile setzte er sich mit gekreuzten Beinen an den Kamin, legte Scheite nach und sah dem blauen, hypnotisierenden Aufschlagen der Flammen zu. Draußen fiel der Schnee noch immer still durch die Dunkelheit, im Lichtkegel der Straßenlampen aber wirkte er wie eine weiße, unbewegliche Masse. Als er sich erhob und aus dem Fenster sah, hatte sich ihr Auto in einen weißen Hügel verwandelt. Seine Fußstapfen in der Einfahrt waren nicht mehr zu sehen.
    Er strich sich die Asche von den Händen und setzte sich auf das Sofa neben seine Frau, die ihre Füße auf Kissen gebettet hatte. Ihre geschwollenen Knöchel waren übereinandergeschlagen, |8| und ein Exemplar von »Dr. Spock’s Baby and Child Care« balancierte auf ihrem Bauch.
    Versunken befeuchtete sie jedesmal ihren Zeigefinger, wenn sie eine Seite umblätterte. Ihre Hände waren schmal, die Finger kurz und kräftig, und beim konzentrierten Lesen biß sie sich leicht auf ihre Unterlippe. Wenn er sie ansah, war er vor Liebe und Verwunderung überwältigt. Daß sie seine Frau war und daß ihr Baby in drei Wochen auf die Welt kommen sollte, verblüffte ihn außerordentlich. Es würde ihr erstes Kind sein, erst seit einem Jahr waren sie verheiratet.
    Sie sah lächelnd auf, als er die Decke fest um ihre Beine schlug. »Wie ist es wohl«, überlegte sie laut, »wenn wir noch im Mutterleib sind? Zu schade, daß wir uns nicht daran erinnern können.« Sie öffnete ihr Kleid und zog den Pullover hoch, den sie darunter trug. Ein Bauch, rund und hart wie eine Melone, kam zum Vorschein. Sie ließ ihre Hand über seine glatte Oberfläche gleiten. Der Schein des Feuers tanzte auf ihrer Haut und warf ein rötliches Gold auf ihre Haare. »Glaubst du, es ist wie im Inneren eines großen Lampions? Im Buch steht, daß das Licht durch meine Haut dringt, und das kann das Baby schon wahrnehmen.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er.
    Sie lachte. »Warum nicht? Du bist doch der Arzt.«
    »Ich bin nur Orthopäde«, erinnerte er sie. »Ich könnte dir das Verknöcherungsmuster von fötalen Knochen erklären, aber das ist auch schon alles.« Er nahm ihren Fuß, der in einem hellblauen Socken steckte und geschwollen und gleichzeitig zart aussah, und begann ihn vorsichtig zu massieren. Er arbeitete sich über ihre ausgeprägte Ferse und die sanfte, konvexe Kurve ihres Astralagus zu den Mittelfußknochen und den Zehengliedern vor, die sich unter Haut und straffen Muskeln auffächerten. Ihr Atmen erfüllte den stillen Raum, ihr Fuß wärmte seine Hände, und er dachte an die vollendete und verborgene Symmetrie der Knochen. Die Schwangerschaft |9| verlief mustergültig und ohne Komplikationen. Trotzdem konnte er seit einigen Monaten nicht mehr mit ihr schlafen. Statt dessen hatte er jetzt das Bedürfnis, sie zu beschützen. Am liebsten hätte er sie ständig Treppen hochgetragen, sie in Decken gewickelt oder ihr Schälchen mit Vanillepudding serviert. »Ich bin kein Invalide«, protestierte sie jedesmal lachend. »Ich bin kein junger Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.« Trotzdem gefiel ihr seine Zuwendung. Manchmal wachte er auf und beobachtete sie beim Schlafen, das Flattern ihres Augenlids, das langsame Heben und Senken ihrer Brust, ihre ausgestreckte Hand, die so klein war, daß er sie mit seiner eigenen ganz umschließen konnte. Sie war elf Jahre jünger als er.
    Zum erstenmal hatte er sie vor über einem Jahr gesehen, als sie die Rolltreppe eines Kaufhauses im Zentrum hochgefahren war, in dem er Krawatten kaufen
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