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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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wollte. Er war dreiunddreißig Jahre alt und gerade nach Lexington, Kentucky, gezogen. Mit ihrem blonden Haar, das in einem eleganten Nackenknoten gebunden war, und den Perlen, die an ihrem Hals und ihren Ohren schimmerten, war sie eine Erscheinung inmitten der Menschenmenge. Sie trug einen dunkelgrünen Wollmantel, und ihre Haut war ebenmäßig und blaß. Er betrat die Rolltreppe und kämpfte sich durch die Menge, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie fuhr in den vierten Stock, Wäsche und Strumpfwaren. Als er ihr durch Gänge folgte, deren Regale mit weich schimmernden Slips, Büstenhaltern und Höschen bestückt waren, hielt ihn eine Verkäuferin an und fragte ihn lächelnd, ob sie ihm helfen könne. »Ei nen Morgenmantel«, sagte er, die Gänge absuchend, bis er ihr blondes Haar und eine dunkelgrüne Schulter erblickte. Für einen Moment entblößte sich die anmutige Neigung ihres hellen Nackens. »Ich suche einen Morgenmantel für meine Schwester, die in New Orleans wohnt.« Natürlich hatte er weder eine Schwester, noch wußte er von sonst irgendeinem noch lebenden Verwandten.
    |10| Die Verkäuferin verschwand, um einen Moment später mit drei Morgenmänteln aus robustem Frottee wiederzukommen. Er wählte blind, sah kaum hin, als er den obersten ergriff. »Diesen gibt es in drei Größen. Im nächsten Monat haben wir eine größere Farbauswahl«, sagte die Verkäuferin, aber er war schon im Gang verschwunden. Einen korallenroten Morgenmantel über dem Arm, hinterließen seine Schuhe auf den Fliesen ein quietschendes Geräusch, als er sich ungeduldig zwischen den anderen Käufern auf die Stelle zuschob, wo sie stand. Sie durchwühlte die Stapel mit den teuren Strümpfen, die, mit Pappe verstärkt und in glattes Zellophan gehüllt, kleine Fenster frei ließen, durch die die reinen Farben schienen: Beige, Marine, ein Braun, so dunkel wie Schweineblut. Der Ärmel ihres Mantels streifte seinen, und er konnte ihr Parfüm riechen, das fein, aber doch durchdringend duftete, ähnlich den Fliederblüten, die damals vor den Fenstern seiner Studentenbude in Pittsburgh wuchsen. Die niedrigen Fenster seiner Souterrainwohnung waren immer schmutzig gewesen, von Ruß und Asche blind. Im Frühling aber blühte der Flieder, weiße und lavendelfarbene Sträuße drängten sich gegen das Glas. Wie Licht drang ihr Duft in sein Zimmer. Vor lauter Atemnot räusperte er sich und hielt den Frotteemantel hoch, aber die Verkäuferin hinter dem Tresen lachte, gerade einen Witz zum besten gebend, und bemerkte ihn nicht. Als er sich wieder räusperte, sah sie ihn verärgert an und nickte dann der Frau zu, die drei dünne Päckchen mit Strümpfen wie riesige Spielkarten in ihren Händen hielt.
    »Es tut mir leid, aber Frau Asher war zuerst hier«, erklärte sie kalt und überheblich. Da blickte er plötzlich in die Augen der Frau, die er eben noch verfolgt hatte, und er war überrascht, daß sie vom gleichen dunklen Grün wie ihr Mantel waren. Sie musterte ihn, und ihre Augen wanderten über seinen soliden Tweedmantel, sein sauber rasiertes, vor Kälte gerötetes Gesicht und die gepflegten Nägel seiner Hände. |11| Dann zeigte sie auf den Morgenmantel über seinem Arm und lächelte dabei amüsiert und ein bißchen geringschätzig.
    »Für Ihre Frau?« fragte sie. Sie hatte einen vornehmen Kentucky-Akzent. Obwohl er erst sechs Monate in dieser Stadt des alten Geldes lebte, war ihm bekannt, daß hier solche Nuancen wichtig waren. »Es ist in Ordnung, Jean«, fuhr sie fort, wobei sie der Verkäuferin den Rücken zuwandte. »Nehmen Sie ihn zuerst an die Reihe. Dieser arme Mann muß sich hier drinnen, unter all der Spitzenunterwäsche, sehr verloren und unwohl fühlen.«
    »Er ist für meine Schwester«, erklärte er, verzweifelt bemüht, den schlechten Eindruck, den er machte, zu korrigieren. Er hatte schon öfter Anstoß erregt, und es passierte ihm häufig, daß er jemanden kränkte, weil er zu direkt war. Der Mantel glitt zu Boden, und er bückte sich, um ihn aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, stand sein Gesicht in Flammen. Ihre Handschuhe lagen auf dem Glas, ihre bloßen Hände ruhten leicht gefaltet daneben. Sein Unbehagen schien sie zu besänftigen, denn als er erneut in ihre Augen sah, blickten sie ihn wohlwollend an. Später erzählte sie ihm, daß es komisch ausgesehen habe, wie er als einziger Mann in der ganzen Wäscheabteilung mit dem riesigen häßlichen Morgenmantel kämpfte.
    Er startete einen erneuten Versuch, sich
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