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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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zu erklären. »Es tut mir leid. Ich scheine etwas durcheinander zu sein, weil ich sehr in Eile bin. Sie müssen wissen, daß ich Arzt bin und man mich im Krankenhaus bereits erwartet.«
    Ihr Lächeln veränderte sich, wurde ernst.
    »Ich verstehe«, sagte sie und wandte sich wieder der Verkäuferin zu. »Bitte, Jean, nehmen Sie ihn dran.«
    Bevor er ging, hatte er ihren Namen und ihre Telefonnummer. Sie waren in der perfekten Handschrift geschrieben, die ihr ihre Lehrerin, eine ehemalige Nonne, in der dritten Klasse eingetrichtert hatte. »Jeder Buchstabe hat eine Form«, hatte sie den Schülern erklärt, »eine völlig einzigartige Form, und |12| es ist eure Pflicht, genau diese Form zu treffen.« Als dünne, blasse Achtjährige hatte die Frau im grünen Mantel, die später seine Ehefrau werden sollte, ihre kleinen Finger um den Füller gepreßt und sich allein in ihrem Zimmer stundenlang in Schreibschrift geübt, bis ihre Feder flüssig über das Papier glitt. Als sie ihm diese Geschichte später erzählte, sah er ihren im Schein der Schreibtischlampe gebeugten Kopf und ihre verkrampften Finger vor sich. Dann wunderte er sich über ihre Hartnäckigkeit, ihren starken Glauben an die Schönheit und ihre Bereitschaft, den strengen Weisungen einer ehemaligen Nonne zu folgen. An jenem Tag aber wußte er von alldem nichts. An jenem Tag trug er den Zettel in der Tasche seines Arztkittels von einem Krankenzimmer zum nächsten, immer an die Buchstaben denkend, die, einer perfekt in den anderen fließend, kunstvoll ihren Namen bildeten. Noch am gleichen Abend rief er sie an, führte sie am nächsten zum Abendessen aus, und drei Monate später waren sie verheiratet.
    Jetzt, in diesen letzten Monaten ihrer Schwangerschaft, paßte ihr der weiche korallenrote Morgenmantel wie angegossen. Sie fand ihn versteckt unter anderen Kleidern und hielt ihn hoch, um ihn ihm zu zeigen. »Aber deine Schwester ist vor langer Zeit gestorben«, rief sie überrascht aus und war plötzlich verwirrt. Für einen Augenblick erstarrte er lächelnd, und die Lüge aus dem letzten Jahr schoß wie ein dunkler Vogel durch den Raum. Dann zuckte er verlegen mit den Schultern. »Ich mußte damals irgend etwas sagen. Ich mußte einen Weg finden, an deinen Namen zu kommen.« Sie durchquerte das Zimmer und umarmte ihn.
    Es schneite noch immer. Während sie lasen oder sich unterhielten, nahm sie ab und zu seine Hand und führte sie zu ihrem Bauch, damit er die Bewegungen des Babys fühlen konnte. Von Zeit zu Zeit stand er auf, um das Feuer zu schüren, schaute aus dem Fenster und sah den Schnee Zentimeter um Zentimeter ansteigen.
    |13| Um elf Uhr erhob sie sich, um ins Bett zu gehen. Er blieb noch zwei Stunden unten, um die letzte Ausgabe des »Jour nal für Knochen- und Gelenkchirurgie« zu lesen. Als Arzt hatte er einen guten Ruf. Man hielt ihn für einen begabten Diagnostiker, und er galt auch als geschickter Chirurg. Er war der erste seines Jahrgangs gewesen, der den Abschluß machte. Dennoch war er sich seiner Fähigkeiten noch nicht ganz sicher, so daß er sich in jeder freien Minute weiterbildete. Erfolge betrachtete er als eine Art Beweise zu seinen Gunsten. Mit seinem Wissensdurst empfand er sich als Außenseiter, da es seiner Familie immer nur um das tägliche Überleben gegangen war. Seine Eltern sahen Bildung als unnötigen Luxus an, als etwas, das zu nichts führte. Wenn sie – arm, wie sie waren – überhaupt einen Arzt aufsuchten, fuhren sie in die Klinik von Morgantown, die achtzig Kilometer entfernt lag. Er konnte sich noch sehr lebhaft an diese seltenen Ausflüge erinnern, bei denen er auf der Ladefläche des geliehenen Pick-ups auf und ab hüpfte, während Staub hinter dem Wagen herwirbelte. Seine Schwester, die in der Fahrerkabine neben den Eltern saß, nannte das Schauspiel »die tanzende Straße«. Im Morgantown Hospital waren die Räume dämmrig, vom trüben Grün oder Türkis eines Tümpels, und die Ärzte, die kühl und abwesend wirkten, waren immer in Eile und kurz angebunden. Jetzt, viele Jahre später, gab es immer noch Momente, da er den Blick dieser Ärzte im Nacken spürte und sich selbst als Betrüger empfand, der jeden Augenblick entlarvt werden konnte. Er war sich darüber im klaren, daß die Wahl seines Fachgebietes auf dieses Gefühl zurückging. Überraschungen, die in der Allgemeinmedizin ständig auftreten konnten, mochte er genausowenig wie heikle Operationen an Organen. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit
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