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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
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gebrochenen Gliedmaßen, formte Gipsverbände, studierte Röntgenaufnahmen und beobachtete Brüche, wie sie sich langsam und doch auf so wunderbare Weise wieder schlossen. Er liebte es, daß Knochen so solide waren, daß sie |14| sogar der weißen Hitze der Einäscherung trotzten. Es fiel ihm leicht, seinen Glauben auf etwas zu gründen, was so fest und verläßlich war.
    Er las bis weit nach Mitternacht, bis die Worte schwarz und zusammenhanglos auf den weißen Seiten glänzten, warf dann das Journal auf den Couchtisch und stand auf, um nach dem Feuer zu sehen. Er stopfte die verkohlten, noch glimmenden Scheite in die Glut, öffnete die Luftklappe ganz und schloß den Messingschirm vor dem Kamin. Als er das Licht löschte, glommen noch einzelne Glutherde in der Asche, die zart und weiß wie der Schnee war, der sich nun hoch auf der Verandabrüstung und den Rhododendren türmte.
    Die Treppe knarrte leise unter seinem Gewicht. Er hielt am Kinderzimmer inne und betrachtete die schattenhaften Umrisse von Wiege, Wickeltisch und Stofftieren, die auf den Regalen saßen. Die Wände waren in einem hellen Meergrün gestrichen. An der gegenüberliegenden Seite hing ein Quilt mit Kinderreimen, den seine Frau mit winzigen Stichen genäht hatte, wobei sie bei der kleinsten Ungenauigkeit jedesmal eine ganze Stoffbahn herausgetrennt hatte. Ein kleines Stück unterhalb der Decke befand sich eine Zierleiste mit Bären. Auch die hatte sie, mit Hilfe einer Schablone, eigenhändig angefertigt.
    Einem Impuls folgend, betrat er das Zimmer und schob die glatten Vorhänge beiseite, um den Schnee zu betrachten, der nun fast zwanzig Zentimeter hoch auf Laternenpfählen, Zäunen und Dächern lag. In Lexington war so ein Unwetter selten, und der stetige Schneefall und die Ruhe erfreuten ihn und stimmten ihn friedlich. In diesem Moment schienen sich die Mosaiksteine seines Lebens zusammenzufügen. Alle vergangene Traurigkeit und Enttäuschung und jedes ängstlich gehütete Geheimnis wurden von den weichen weißen Schichten verborgen. Morgen würde alles unberührt sein, die Welt würde gedämpft und verletzlich daliegen, so lange, bis die Kinder aus der Nachbarschaft herauskommen und sie mit |15| ihren Fußstapfen, Rufen und ihrer Freude zerstören würden. Er konnte sich an solche Kindheitstage in den Bergen erinnern, seltene Momente der Flucht.
    Er stand eine ganze Weile dort am Fenster, bis er hörte, wie sich Norah leise regte. Mit gesenktem Kopf saß sie auf der Bettkante, die Hände in die Matratze gekrallt. »Ich glaube, das sind die Wehen«, stöhnte sie und blickte auf. Ihr Haar war gelöst, eine Strähne klebte an ihrer Lippe. Er strich sie hinter ihr Ohr zurück. Sie schüttelte den Kopf, als er sich neben sie setzte. »Ich fühle mich irgendwie komisch. Diese Krämpfe kommen und gehen.«
    Er half ihr, sich auf die Seite zu legen, und legte sich dazu, um ihr den Rücken zu massieren. »Es ist wahrscheinlich nur falscher Alarm«, beruhigte er sie. »Schließlich ist es drei Wochen zu früh, und bei der ersten Geburt kommen die Babys meistens zu spät.«
    Was er da eben gesagt hatte, stimmte, das wußte er. Er war sich dessen sogar so sicher, daß er nach einer Weile einschlief. Doch plötzlich wachte er auf und sah sie vor sich. Sie hatte sich über das Bett gebeugt und rüttelte an seinen Schultern. In dem seltsamen Licht, das der Schnee ins Zimmer warf, wirkten ihr Morgenmantel und ihr Haar weiß.
    »Ich habe die Abstände gemessen. Die Wehen liegen fünf Minuten auseinander und sind so stark, daß ich Angst habe.«
    Nachdem sie ihm dies eröffnet hatte, spürte er, wie ihn eine Welle von Aufregung und Angst erfaßte. Während seiner Ausbildung hatte er jedoch gelernt, in Notfällen ruhig zu bleiben und seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. So nahm er sich, ohne jede Dringlichkeit, eine Uhr und begann langsam die Diele mit ihr auf und ab zu gehen. Immer wenn die Wehen einsetzten, drückte sie seine Hand so fest, als wollte sie seine Finger mit ihren verschmelzen. Die Wehen kamen tatsächlich erst alle fünf, dann alle vier Minuten. Er nahm den Koffer vom Schrank und war angesichts der Tragweite des lang erwarteten, gleichzeitig aber so überraschenden Ereignisses plötzlich wie |16| betäubt. Obwohl sie selbst ständig in Bewegung waren, schien sich die Welt um sie herum zu verlangsamen und zum Stillstand zu kommen. Er nahm alles überdeutlich wahr, spürte seinen eigenen Atem über die Zunge streichen, bemerkte ihr Unbehagen,
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