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100 Stunden Todesangst

100 Stunden Todesangst

Titel: 100 Stunden Todesangst
Autoren: Stefan Wolf
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1. Wenn die Oma
nicht wäre...
     
    Man schrieb
noch November, aber der Schnee fiel in dicken Flocken, und die Landschaft um
Birkenrode war überzuckert mit makellosem Weiß.
    Fluchend
fuhr Tom zum dritten Mal die Dorfstraße ab.
    Auch hier
alles weiß. Das hieß: Es bestand wenig Aussicht, daß er den verlorenen
Briefumschlag fand.
    Er starrte
zu Boden. Allmählich tränten ihm die Augen: das grüne wie das blaue. Sein
Motorroller röhrte im Schleichschritt. Hin und wieder rutschten die Reifen.
    Einmal
hielt er an, weil er meinte...
    Nein,
nichts! Scheibenkleister, elender!
    Wie nur,
überlegte er, war ihm der verdammte Umschlag aus der Tasche gerutscht? Na, wie!
Weil er ihn nicht tief genug reingeschoben hatte, vermutlich. War ja jetzt auch
völlig egal. Nur eins zählte: der Verlust.
    Es war
Freitagnachmittag. Hier draußen — im stadtnahen Dorf — eine stille Stunde.
    Die
Bewohner zogen die Gemütlichkeit ihrer Häuser dem Schneetreiben vor. Abseits
der Dorfstraße muhten Kühe in ihren Ställen. Nur wenige Fahrzeuge zerackerten
die frische Schneeschicht auf der Fahrbahn.
    Dennoch —
Toms Briefumschlag blieb verschwunden.
    Hatte ihn
jemand gefunden? Und behalten? Wegen des Inhalts. Oder war er zugeschneit?
    Die
Vernunft gebot, mit dem Suchen aufzuhören. Aber Tom war niedergeschlagen bis in
die Knochen.
    Wie sollte
er die Sache geradebügeln? Peinlich, peinlich!
    Zur Oma —
zu Lockes Oma Elisabeth Rehm, die hier am Dorfrand wohnte, zusammen mit ihrer
Katze — zur Oma, also, wäre er lieber mit frohem Sinn gefahren. Statt mit
diesem Ärger-Sorge-Trübsal-Gemisch.
    Er hielt
vor dem Grundstück und schob seinen funkelnagelneuen Roller auf die Raststütze.
    Die Wiese
hinter Omas Häuschen war jetzt ein Leichentuch. Drüben beim Wald hockten Krähen
unter den Bäumen. Durch die schneeschwere Luft drang ihr Krächzen nicht weit.
    Tom trat
durch die Gartenpforte.
    Nur Katzenpfoten
zeichneten sich im Schnee ab. An einer geschützten Stelle unter dem
verwinkelten Dach hatte Oma zwei Vogelhäuser aufgestellt. In den Bäumen hingen
Meisenringe und Fettkugeln.
    Sie hatte
ihn durchs Fenster gesehen und stand schon an der Tür. Ihr gütiges Gesicht
strahlte.

    „Na, Tom!
Bei dem Wetter... Schlimm so was! Komm rein, mein Junge! Ist auch nicht mehr
wie in meiner Jugend. Da war der November ein Herbstmonat und nicht fürs
Skifahren gemacht.“
    Tom
lächelte, umarmte sie und ließ gleich wieder die Mundwinkel hängen.
    Während er
in der Diele seine Windjacke an die Garderobe hängte, sah ihn Oma Rehm von der
Seite an.
    „Bist du
erkältet?“
    „Nö.
Schnupfen kenne ich kaum. Bin ja abgehärtet, Oma, weil ich jeden Morgen kalt
dusche. Und das liebe Mütterchen, die Tierärztin, meint immer, Wasserbüffel
erkälten sich nicht.“
    Im
gemütlichen Wohnzimmer dampfte die Teekanne. Selbstgebackenes Brot und
selbstgemachtes Pflaumenmus standen bereit. Oma hatte Tom erwartet. Sah sie in
ihm doch ihr drittes Enkelkind, obwohl verwandtschaftliche Bande nicht
bestanden.
    „Nun mal
raus mit der Sprache, Tom. Dich bedrückt was. Das merke ich.“
    Sie saßen
am Tisch. Tom schnupperte an seinem Tee.
    „Ceylon-Tee!
Den mag ich. Es ist so, Oma: Ich habe zwei Sachen miteinander verbunden. Den
Besuch bei dir. Und... Also, bei der Gelegenheit bin ich auch gleich bei Herrn
Lilienhahn gewesen. Kennst du, ja? Er ist engagierter Tierfreund. Und Mitglied
im Städtischen Tierschutzverein. Letzte Woche hat er hier in Birkenrode die
Sammlung durchgeführt. Und sage und schreibe 637,80 Mark eingenommen.“
    Oma Rehm
nickte. „Lilienhahn war auch bei mir. Der setzt sich wirklich ein und scheut
kein Wetter. Er wohnt vorn an der Dorfstraße.“
    „Helga“,
Tom sprach von seiner Mutter, „ist ja nicht nur im Vorstand, sondern verwaltet
zur Zeit auch die Kasse. Mich hat sie beauftragt, die Einnahmen der Sammlung
bei Lilienhahn abzuholen. Habe ich gemacht. Und den Empfang des Geldes
quittiert. Tja, und jetzt ist es weg.“
    „Weg?“
    „Verloren.“
    „O Gott!
Alles?“
    „Das Geld
war in einem weißen Kuvert. Das ist mir irgendwo aus der Tasche gefallen.
Gesucht habe ich wie ein Blöder. Aber es ist wohl im Schnee begraben. Oder ein
anderer war schneller.“
    Omas Brot
duftete. Die Rinde war besonders krustig. Oma bestrich eine Scheibe mit Butter
und Pflaumenmus.
    „Und nun,
Tom?“ Sie legte das Brot auf seinen Teller. „Du bist für das Geld
verantwortlich.“
    „Das ist es
ja. Ich muß es ersetzen. Teurer Spaß — das!“
    „Hast
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