Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
Käseschmiere und feine Spuren von Blut überzogen seine zarte Haut, und es war vom Fruchtwasser noch ganz glitschig. Die blauen Augen wirkten trüb, und das Haar war pechschwarz, aber davon bemerkte er kaum etwas. Etwas anderes nahm ihn gefangen. Er starrte auf die unverkennbaren Gesichtszüge: die Augen, die wie zu einem Lachen nach oben gedreht waren, die Epikanthus-Falte über dem Augenlid und die flache Nase. »Ein klassischer Fall«, hatte sein Professor bei der Untersuchung eines anderen Kindes vor Jahren gesagt. »Es ist ein mongoloides Kind. Wissen Sie, was das bedeutet?« Daraufhin hatte er, der Arzt, gehorsam die Symptome aufgezählt, die er aus einem Fachartikel kannte: schlaffer Muskeltonus, verzögerte körperliche und geistige Entwicklung, mögliche Herzkomplikationen, früher Tod. Der Professor hatte genickt und das Stethoskop auf die nackte weiche Brust des Säuglings gedrückt. »Armes Kind. Die Eltern können nichts anderes tun, als es sauberzuhalten. Sie sollten sich das ersparen und es in ein Heim geben.«
    |26| Der Arzt fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Seine Schwester war mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen und sehr langsam gewachsen. Ihr Atem ging stockend, und immer wenn sie zu rennen versuchte, mußte sie nach Luft schnappen. Viele Jahre lang, bevor sie nach Morgantown in die Klinik fuhren, wußten sie nicht, was mit ihr los war. Und als sie es schließlich erfuhren, konnten sie nichts für sie tun. Seine Mutter richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf seine Schwester, und trotzdem verstarb sie mit zwölf Jahren. Da war er selbst schon sechzehn gewesen, hatte ein Stipendium erhalten und in der Stadt gelebt. Er war bereits auf seinem Weg nach Pittsburgh gewesen, zum Medizinstudium, zu dem Leben, das er jetzt führte. Dennoch konnte er sich an die tiefe, lang anhaltende Trauer seiner Mutter erinnern. Auch sah er sie wieder vor sich, wie sie jeden Morgen bei Wind und Wetter mit verschränkten Armen den Hügel zum Grab hinaufging.
    Die Krankenschwester stand an seiner Seite und betrachtete das Baby.
    »Es tut mir so leid für Sie, Herr Doktor«, sagte sie mit aufrichtigem Bedauern.
    Er hatte völlig vergessen, was er als nächstes tun mußte, und hielt das Neugeborene noch immer auf dem Arm. Die winzigen Hände des Mädchens waren perfekt geformt. Aber da gab es auch diesen Spalt, der sich wie eine Zahnlücke zwischen ihrem großen Zeh und den anderen auftat, und wenn er ihr tief in die Augen sah, konnte er deutlich die Bushfield-Flecken erkennen, die wie winzige Schneeflocken in ihrer Iris saßen. Er stellte sich ihr Herz vor, das groß wie eine Pflaume und wahrscheinlich defekt war, und er dachte an das Kinderzimmer mit den weichen Kuscheltieren, das so liebevoll bemalt war, und an die einzelne Wiege darin. Zuletzt sah er seine Frau vor sich, wie sie auf dem Bürgersteig vor ihrem verschneiten, mondbeschienenen Haus gestanden und gesagt hatte: »Dann wird nichts mehr so sein, wie es war.«
    |27| Die Hand des Kindes streifte seine, und er machte sich an die Arbeit. Willenlos begann er die gewohnten Arbeitsgänge abzuspulen. Er durchschnitt die Nabelschnur, überprüfte Herz und Lungen und dachte dabei die ganze Zeit an den Schnee. Er sah das silberne Auto in den Graben fahren, und die tiefe Stille der leeren Klinik drang in sein Bewußtsein. Wenn er später an diese Nacht zurückdachte – und in den kommenden Monaten und Jahren würde er noch oft an diese Nacht denken, die den Wendepunkt in seinem Leben markierte, und an die Momente, um die sich später alles andere fügen würde –, so erinnerte er sich an diese Stille und an den stetig fallenden Schnee. Die Stille umfing ihn so gänzlich, daß er sich fühlte, als würde er schweben: immer höher, über das Zimmer hinaus und weiter, bis er mit dem Schnee eins wurde und bis das Schauspiel in diesem Zimmer zu einem anderen Leben gehörte – einem Leben, dessen zufälliger Zuschauer er war –, als wäre es nur eine Szene, die man im Vorbeigehen durch ein warm erleuchtetes Fenster erhascht.
    »Bitte machen Sie es jetzt sauber«, wandte er sich an die Schwester und entließ das leichte Bündel in ihre Arme. »Be halten Sie es aber im anderen Raum, ich möchte nicht, daß meine Frau schon davon erfährt. Es ist noch zu früh.«
    Die Schwester nickte. Sie verschwand und kam dann wieder, um seinen Sohn in die Babyschale zu legen, die sie mitgebracht hatten. Der Arzt war inzwischen damit beschäftigt, die beiden Plazentas zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher