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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg
Autoren: Kirsten Fuchs
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mitnehmen. Ich muss eh jemand mitnehmen. Ich habe die Wahl zwischen Männern, die ihr Gehirn in Alkohol eingelegt haben, und dem Bub, der damit erst anfangen wird. Er heißt Lukas und ist einen Kopf größer als ich. Er ist massig und hat eine zu kleine Brille, an der er sich die Augen stößt. Ich weiß gar nicht, ob der in mein Auto passt. Er steigt hinten ein, okay, bin ich eben sein Taxi.
    «Du weißt, warum wir immer zu zweit gehen müssen?»
    «Ja», sagt er.
    Damit habe ich nichts weiter zu sagen, er weiß es schon. Ich reiche ihm die Anträge hinter und auch die Protokolle, damit er schon mal das Datum drauf schreiben kann.
    «21. November», sage ich ihm. Er schreibt auf seinen Knien.
    Ich schalte das Radio ein und suche den Sender, der mir mehr auf den Geist geht als alle anderen Radiosender, die mir auf den Geist gehen, aber er bringt keine Straßenverkehrsmeldungen, die mir noch mehr auf den Geist gehen als alles andere, was mir auf den Geist geht.
    Vor dem Haus der Frau fragt mich Lukas, ob wir bei ihr angemeldet sind. Die Frage scheint ihn unter der Mütze zu jucken. Er kratzt sich die Stirn. Er sieht verschwitzt aus, weil er im Auto die ganze Montur angelassen hat. Das ist schlecht für die Haut, und schlechte Haut ist schlecht für Mädchenbekanntschaften, und keine Mädchenbekanntschaften sind schlecht fürs Selbstwertgefühl und dazu noch dieser Beruf.
    «Ich ruf immer vorher an», erkläre ich ihm und hoffe, dass er sich das merkt, merk dir das, schreibs in dein Berichtsheft. Ich lasse Lukas klingeln. So, jetzt weiß er, wie man klingelt, mit dem Daumen, so schauts.
    Die Frau, die den Kinderwagen will, duzt Lukas. Ich sieze ihn deshalb extra.
    Ich gehe durch die Wohnung wie durch ein modernes Museum. Was wollte der Künstler uns damit sagen? Es ist eine kackbeschissene Welt? Die Ironie liegt im Abwasch? Das erste Kind sitzt mit einer Beule auf dem Kühlschrank als Symbol für was Kaltes? Die soziale Kälte im Eisfach neben dem Spinat? Weil ich gar nicht schlechte Laune habe, sage ich: «Hübsch ham Sies hier!» Die Frau glubscht, wie unten abgeschnürt und oben quillt es raus. So sieht auch ihr Busen aus. Noch nie was von in Würde altern gehört. Sie pult sich ratlos am Kinn. Dort ist Schorf und dann nicht mehr. Selbstvergessen isst sie den Schorf.
    «Bei mir zu Hause sieht es fast genauso aus», sage ich. Das ist das Einzige, was ich für sie tun kann. Ich kann ihr den Glauben geben, dass es Beamten, die Alimente statt Lohn bekommen, also quasi Kindern des Staates, auch nicht besser geht. Mir nicht und dem kleinen Lokomotivführer Lukas, tuff tuff, auch nicht. Der steht neben mir und hält mit beiden Händen die Zettel vor seine Michelinmännchenjacke, außer wenn er kurz eine Hand braucht, um unter seiner Mütze zu kratzen. Klar sieht es bei mir schöner aus – aber was solls? –, sie lügt mich an, und ich lüge zurück. Mehr ist nicht drin, denn in ihr ist auch nicht mehr drin als die übliche leere Gebärmutter. Sie kann nicht beweisen, dass sie schwanger ist. Der Arzt dieses und der Vater jenes und Geld tralala. Heul doch! Dann heult sie. Ihr Kind hüpft vom Kühlschrank und sagt: «Ich geh runter!»
    «Aber es ist doch so kalt», weint die Mutter. Das Kind zuckt die Schultern. Ich zucke auch die Schultern. Kinder, man kann nicht mit sie und man kann nicht mit sie. Was will die Frau mit einem Kinderwagen, wenn sie nicht schwanger ist? Kann man im Kinderwagen besser Zigaretten schmuggeln? Auf dem Küchentisch steht ein nicht beendetes Mittagessen. Die Gläser sind nicht ausgetrunken und die Teller stehen mit aussortierten Resten am Tellerrand am Tischrand. Die Decke ist bekleckert. «Freigegeben», hat meine erste Frau dazu gesagt. Freigegeben, um weiter drauf zu kleckern, muss sowieso in die Wäsche. Ich will nicht an Sylvia denken.
    «Melden Sie sich, wenn Sie ein Attest haben.»
    «Ich habe doch schon ein Attest.»
    Ich sage: «Na gut, dann reichen Sie den Antrag nochmal ein.»
    «Ich habe den Attest verbummelt.» Sie heult immer noch. Als wäre das eine ausweglose Situation. Ist es nicht. Es ist Kleinkram gegen den Großkram. Ich zucke die Achseln. Der Sohn winkt mit einem Basecap in die Küche. Ein Basecap ist nicht wirklich eine warme Mütze. Die Ohren frieren drunter hervor. Es sind nicht meine Ohren. Es sind nicht die Ohren meines Sohnes. Und der Bub, für den ich heute zuständig bin, der hat ja eine warme Mütze und darum ein fettig glänzendes Gesicht. Sie hat das Attest also
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