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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg
Autoren: Kirsten Fuchs
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ein trauriger dünner Mann, ich freue mich unwahrscheinlich auf ihn.
    Das Kind findet den Schneemann verunglückt, «krüpplich», sagt es, und es kann ja finden, was es will. Nur weil wir in einem Haus wohnen und den Fahrradkeller zusammen benutzen, muss es meinen neuen Freund nicht mögen. Ich stecke dem Schneemann eine Astgabel in die kalte Faust, wie eine Wünschelrute, mit der er suchen kann, wo es warm ist. Wärme wäre für einen Schneemann gar nicht gut, nein. Bis er kommt, muss ich noch meine Wohnung aufräumen und meine Hände müssen wieder warm werden. Davor muss ich den versprochenen Kakao machen, für das Kind. Das Kind sitzt auf der Leiter, auf der dritten Stufe und fragt mich, was ich mache.
    «Kakao» sage ich, aber das Kind meint, allgemein. Was ich mache, wenn ich nicht Kakao mache. Kaffee? Ich verstehe schon, natürlich, aber ich will nicht antworten, warum auch? Das Kind ist sechs Jahre alt, und schon morgen ist die Welt eine andere, ganz anders, kann sein ohne Schnee, und schon in zwei Jahren wird es nicht mehr wissen, was ich ihm erzählt habe. Also sage ich, ich wäre in einer Umschulung. Umschulung muss ich erklären. Das Kind will alles wissen. Das Kind kann gar nicht alles wissen wollen. Es gibt sehr viele Sprachen und sehr viel Grammatik dazu. Niemand weiß das alles. Konzentrationslager und Mathe. Ich will das nicht wissen. Das Kind trinkt den Kakao und wir reden über Kleingärten. Die Eltern des Kindes haben einen in Straußberg. Meine Tante hatte einen Garten. Wir finden Gärten schön, beide.
    Dann geht das Kind nach Hause, um etwas im Fernsehen zu sehen, was ein Kind eben macht, wenn es krankgeschrieben ist, Ohrensausen. Ich räume auf. Ich schiebe eine ganze Stunde den Papierkram unter den Teppich, so, dass keine allzu große Beule entsteht. Den Zettel für die Krankenversicherung muss ich noch ausfüllen, für die GEZ muss ich noch bestreiten, dass ich ein Radio habe, fürs Wohngeld muss ich noch was nachreichen. Dann gieße ich meine Pflanzen und überlege, ob sie Namen brauchen. Aber wozu? Wenn ich sie rufe, kommen sie nicht.
    Es ist Donnerstag, und ich sitze auf meinen Händen, damit sie warm sind für meinen neuen Mann. Ich sitze auf meinen Händen, und darum kann ich nichts machen. Ich warte auf ihn, weil ich immer schon auf ihn gewartet habe. Ich liebe solche Sätze. Ich habe schon immer auf ihn gewartet, schon immer. Er ist alle meine Männer zusammen, alle. Die waren verschieden, und darum ist er Durchschnitt. Unterm Strich ist er alle. Alle Haarfarben gemischt ergibt dunkle Haare. Ich warte mit angespannten Muskeln und geschlossenen Augen. Das ist schöner als eine Ausbildung zur Floristin. Die Ausbildungsstelle habe ich letzte Woche abgelehnt, weil das keinen Sinn macht. Im Winter noch dazu. Blumen im Winter. Zimt im Sommer. Aber irgendwas musste ich dem Arbeitsamt ja sagen, damit ich dem Sozialamt sagen kann, dass ich dem Arbeitsamt was gesagt habe. Da sage ich immer wieder Pflanzen, Blumen.
    Ich sitze auf meiner Truhe und habe Zeit für alles, was ich will, alles. Ich will auf ihn warten. Ich will, dass er zu mir kommt an einem verschneiten Tag und über den Winter bleibt. Im Sommer fahren wir an die Ostsee. Irgendwer muss seine Frau sein. Dann mache ich das. Da muss doch ein Mensch in dem Mantel sein und im Oberhemd ein Mann, meiner. Ich sitze aufrecht. Ich konzentriere mich darauf, dass er bald da ist, und nach einer Stunde klingelt es, er, da, hier.
    Durch seine nassen Sachen kann ich seine Rippen sehen. Alle da. Wir sind alle da. Ich und er jetzt auch, hier. Er zieht die Schuhe aus. Er mag meine Wohnung. Er liebt mich. Ich liebe ihn. Das ist klar. Ich war in Mathe immer schlecht, aber Haare schneiden kann ich und blasen, und ich weiß was mit meinen Händen anzufangen. Ich kann Nägel in eine Wand schlagen und wieder herausziehen. Ich kann die Löcher zuspachteln und hüpfen, bis ich müde bin. Er ist müde. Arbeit macht müde. Ich mache ihm Kaffee. Er trommelt mit den Fingern auf meinen Tisch, sitzt wie auf einem Stuhl, der schon mal unter ihm zusammen gebrochen ist. Er misstraut Stühlen. Wer aus dem Nest gefallen ist, misstraut Stühlen. Ich hoffe, er macht nicht Liebe, als wäre eine Frau schon mal unter ihm zusammengebrochen. Selbst wenn, das macht nichts, ich bin sein Gegenteil, er wird lernen, viel. Während er Kaffee trinkt, schaut er sich um. Schau dich um! So sehe ich innen aus, gemütlich und begrünt, Pflanzen, Blumen.
    Wir reden über unsere Kindheit,
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