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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg
Autoren: Kirsten Fuchs
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Kopf eine Raucherecke mit gestreifter Tapete und einem Kunstledersofa. «Ikebakenoleum» hat meine erste Frau zu Kunstleder gesagt. Ich will jetzt nicht an Sylvia denken. Sie hat mich nicht geändert. Wir haben uns gelassen, wie wir sind, und dann ganz gelassen. Wir haben uns nichts getan im Guten und im Schlechten. Was haben wir eigentlich jahrelang getan? Ach ja, die Kinder. An die Kinder will ich jetzt auch nicht denken. Die sind so groß, dass ich keine Striche mehr an die Türrahmen male. Früher war es so einfach festzustellen, wie sie sich verändern. Ich schiebe jeden Tag Akten hin und her, um den Unterhalt zu bezahlen. Sebastian macht Abi und will danach studieren. Und Linda weiß noch nicht, ob sie Abi machen will. Ich werde noch ewig und dreihundert Tage Akten hin und her schieben und mir Leidensgeschichten anhören. Mich hats ins Sozialamt verschlagen, aber nicht als Antragsteller, wenigstens das nicht. Ein müdes, ein sehr, sehr müdes Jippi.

    Heute im Sozialamt habe ich eine Stunde gewartet. Ich warte gerne. Ich warte immer. Jeden Tag passiert etwas, auf das ich gewartet habe. Heute hat es geschneit, ganz kurz. Heute hatten sie mein Haarfärbemittel nicht in der Drogerie, ein Dunkelbraun. Ich weiß nicht, wie es heißt, aber ich erkenne die Frau auf der Verpackung. Sie erinnert mich an meine Grundschullehrerin, die mir wenig beigebracht hat. Ich mache ihr keine Vorwürfe, sie hatte eine schöne Haarfarbe, ein Dunkelbraun. Ich habe darauf gewartet, dass sie die Farbe nicht mehr haben, denn immer, wenn ich etwas mag, wird es vom Markt genommen. Ich hatte einen Lieblingsjoghurt mit Birnen und Körnern, dann wurde er vom Markt genommen, weg. Der liebe Gott nimmt Produkte vom Markt, damit wir uns nicht zu sehr an etwas gewöhnen. Er lässt Menschen sterben, damit wir uns andere suchen. Es sind ja genug da. Nicht drängeln, für jeden ist ein Freund da. Ich werde mir die Haare mit einem anderen Mittel färben. Der liebe Gott will, dass ich darunter leide, dass es diesen Joghurt nicht mehr gibt. Da hat er sich geschnitten. Ich schneide mir Birnenstückchen in den Joghurt und Körner mache ich auch dazu. Aber im Moment gibt es keine Birnen. Ich muss warten, bis sie reif sind. Ich mache das gerne. Ohne Zeit macht Warten keinen Spaß, aber ich habe Zeit wie Sand und mehr. Im Sozialamt haben alle Zeit, die 397 und die 402. Drei Leute haben gelesen und der Rest hat sich auch beschäftigt, Fingernägel, Nase, Kinn und Ohren – alles wieder sauber. Ich übte meinen Text: «Überall habe ich mich beworben, überall in ganz Berlin, aber keiner braucht mich. Ich bin verzweifelt. Das können Sie sich vorstellen. Ich weiß gar nicht, was ich falsch mache. Schöne Bewerbungen habe ich geschrieben, Foto und alles. Und Briefmarken.» Und dann war da mein neuer Sachbearbeiter. Den wollte ich gar nicht anlügen. Den wollte ich mir in den Schlüpfer stecken, damit er sich aufwärmen kann.

    Ich habe die Arbeit bis ganz oben. Weil morgen ein neuer Tag ist, könnt ich vor Freude kaputt gehen, aber ich werd einfach nur hingehen. Ich kann mich ja alleine gar nicht beschäftigen. Das Aquarium ist sauber. Ich habe gar nichts zu tun. Ich rauche, bis das Telefon klingelt, tut es aber nicht. Wenn es tatsächlich klingeln würde, bekäme ich stante pede einen Herzinfarkt. Das Schöne an Ruhe ist ja, dass sie nichts mit Vorwürfen zu tun hat. Es ist so still, wenn es ruhig ist. Da kommen so Gedanken kurz vorm Schlafen. Ich asche in einen Kronkorken, und das ist nicht so übel wie um Mitternacht schon schlafen zu gehen. Was könnte man treiben, um nicht nachzudenken? Andere haben Hobbys. Sammeln, Tauschen, Tauchen, Ablenkung mit Gegenständen. Ich habe Zigaretten. Sylvia hat gerne gekocht. Ich will nicht an meine erste Frau denken, nicht an die Kinder und nicht an die zweite Frau. Wer denkt schon gerne an eine Ursel? Wie kann man eine Ursel heiraten? Wollen Sie die hier anwesende Ursel urseln? Urst gern! Ursel war aus dem Osten. Ich hab Feierabend. Ich will nicht an die Arbeit denken. Ich bin bis auf Weiteres zuständig für die Buchstaben H bis N. Nicht mehr für A bis G. Eine Kollegin muss, und will anscheinend auch, ein Kind bekommen, während die andere Kollegin, die sie ersetzen soll, das schon hinter sich hat, aber noch ein bisschen das Eijapopeia schaukeln muss, bis sie wieder ins Berufsleben zurückkehrt. Kinder, Kinder, bis dahin bin ich der Amtspapa für H bis N. H bis N sagt genau dasselbe wie A bis G. Verstehen Sie doch.
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