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Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Titel: Die Tage des Regenbogens (German Edition)
Autoren: Antonio Skármeta
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vergnügt nach Hause.«
    »Herr Minister, es sind mehr als dreitausend Menschen verschwunden.«
    »Die Statistiken übertreiben. Die kritischen Zeiten sind längst vorbei. Habe ich Ihnen nicht eben erzählt, dass wir eine tadellose demokratische Volksabstimmung abhalten werden? Ihre Tochter braucht sich keine Sorgen zu machen.«
    Bettini stand auf und fasste sich an den Krawattenknoten, um das Auf-und-ab-Hüpfen seines Adamsapfels zu verbergen. Auf seiner Zunge hatte sich so viel Spucke gesammelt, dass er schlucken musste.
    »Santos«, sagte er heiser.
    »Wie bitte?«
    »Santos. Der Philosophielehrer heißt Rodrigo Santos.«
    Der Minister legte die Hände auf den Ordner, um eine Seite glatt zu streichen, und zeichnete mit seinem Kugelschreiber gedankenverloren einen Kreis.
    »Schule?«
    »Instituto Nacional.«
    »Oh! ›Das Glanzlicht der Nation‹.«
    »Herr Minister?«
    »›Das Glanzlicht der Nation‹. So heißt eine Zeile aus der Hymne der Schule. Ort des Geschehens?«
    »Im Klassenraum.«
    »Zeugen?«
    »Über dreißig Schüler. Sie platzten mitten in den Unterricht.«
    Der Staatsbeamte seufzte und wirkte plötzlich müde.
    »Aussehen der Einsatzleute?«
    »Kurze Haare, jung, Trenchcoats …«
    »Wie aus einem Film. Tag?«
    »Mittwoch. Vorgestern, am Mittwochmorgen.«
    Der Minister klappte die Akte zu, reckte das Kinn und ließ ein bedeutungsschweres Schweigen verstreichen, bevor er zu reden ansetzte.
    »Und was meinen Sie zu unserer Sache, Bettini?«
    Unsere Sache, dachte der Werbefachmann. Als ob er mit dem Innenminister irgendetwas gemeinsam hätte. Unsere Sache.
    »Wie viel Zeit geben Sie mir, um darüber nachzudenken?«
    »Nehmen Sie sich ruhig ein paar Tage Zeit.«
    »Ich rufe Sie am Montag an.«
    »Nein, lassen Sie nur. Sie werden hier persönlich erscheinen. Ich werde Ihnen ein paar Jungs schicken, die werden Sie hierherbringen.«
    »Bis Montag, Dr. Fernández.«
    Der Minister erhob sich und streckte ihm frohgemut die Hand hin.
    »Philosophie. Ein bisschen ist aus der Schulzeit bei mir hängen geblieben. ›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹ Von wem war das noch?«
    »Sokrates.«
    »Und diese andere Sache mit dem Fluss?«
    »Heraklit. ›Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.‹«
    »Auf Wiedersehen, Bettini.«

FÜNF
    I ch rief die erste Nummer an, niemand meldete sich. Das hätte nicht sein dürfen. Wenn niemand abhob, konnte das nur heißen, dass derjenige auch festgenommen worden war.
    Ich wählte die zweite Nummer.
    Jemand hob ab, und gemäß dem Plan »Barock« fragte ich nicht, mit wem ich sprach, und nannte auch nicht meinen Namen. Ich erzählte nur, dass Herr Santos festgenommen worden war. Der Mann am anderen Ende der Leitung sagte, er würde sich um die Sache kümmern.
    Er fragte, ob es Zeugen gebe.
    Sicher gab es Zeugen. Wir sind fünfunddreißig Schüler in der Klasse, und ich bin die Nummer 31 auf der Liste. Des »s« wegen. »S« wie Santos. »Dann ist ja alles gut«, sagte der Mann und versicherte noch einmal, dass er sich kümmern würde.
    Ich weiß, was »sich kümmern« in diesem Fall bedeutet. Der Mann wird zu den Ordensbrüdern gehen, einer der Ordensbrüder wird mit dem Kardinal reden, der Kardinal wird mit dem Innenminister reden, und der Innenminister wird dem Kardinal sagen, »machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mich darum kümmern«. Beim Plan »Barock« darf ich selbst nichts unternehmen, denn wenn ich mich mit der Polizei anlege, nehmen sie mich womöglich auch noch fest, und dann dreht Papa durch.
    Also gehe ich an diesem Mittwoch nach Hause. Auf der blau-weiß karierten Tischdecke stehen die beiden Teller, die wir schon am Morgen fürs Mittagessen gedeckt haben. Neben Papas Glas steht die angebrochene kleine Weinflasche, und neben meinem Gedeck der Apfelsaft.
    Ich setze mich an den Tisch, denn ich habe keine Lust, in die Küche zu gehen und mir die vom Abendessen übrig gebliebenen Kartoffeln aufzuwärmen. Eine halbe Stunde lang sitze ich da, antriebslos und ohne an etwas zu denken. Jedes Mal, wenn ich anfangen will nachzudenken, greife ich zur Gabel und schlage auf den leeren Teller.
    Schließlich gehe ich in mein Zimmer, werfe mich aufs Bett und lese in der Sportzeitschrift Don Balón . Es läuft schlecht für meinen Lieblingsverein Universidad de Chile . Sobald sie einen guten Spieler haben, verkaufen sie ihn ins Ausland, nach Spanien oder Italien, und die Mannschaft fällt auseinander.
    Es ist kalt, und die elektrische Heizung ist nicht an. Papa sagt,
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