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Insel des Todes

Insel des Todes

Titel: Insel des Todes
Autoren: Carter Brown
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1
     
    Es war ein Morgen im
Spätherbst. Die hohen Türme Manhattans hatten sich in dichte Dunstschleier
gehüllt, und das einsame Eichhörnchen, das auf der Suche nach Nahrung zwischen den
welken Blättern wühlte, machte ein Gesicht wie ein Großaktionär von der
Wallstreet, der noch immer nicht begreifen kann, wieso die Aktien an einem Tag
gleich fünfzehn Punkte fallen konnten.
    Sie stand am East River und
starrte aufs Wasser. Die Hände waren in den Taschen ihres Trenchcoats
vergraben, den in der Taille ein enggeschnürter Gürtel zusammenhielt. Es war
die richtige Zeit und der richtige Ort — keine Menschenseele zu sehen, niemand,
der trotz des unaufhörlich nieselnden Regens einen Spaziergang am Fluß
unternahm — , deshalb dachte ich mir, daß sie die
Richtige sein mußte.
    »Ich bin Danny Boyd«, erklärte
ich und trat auf sie zu. »Was tun Sie hier? Wollen Sie sich eine
Lungenentzündung holen ?«
    Sie drehte sich betont langsam
um und musterte mich. Ihr Haar hatte die Farbe hellen Strohs, es war lockig und
kurzgeschnitten. Doch das war nebensächlich. Es war ihr Gesicht, das
faszinierte. Ein Gesicht von beinahe klassischer Schönheit mit hohen
Backenknochen, breiter Stirn und gerader Nase. Ebenmäßig und ausgewogen. Die
Haut erinnerte an blaugeäderten Marmor. Es war das Gesicht der Schneekönigin,
atemberaubend in seiner starren, vielleicht kalten Schönheit. Dann sah ich ihre
Augen, und das Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte, verblaßte.
    Es waren unnatürlich große,
tiefliegende Augen. Im tiefen Blau tanzten spöttische, kleine Lichter beinahe
herausfordernd. Das waren nicht die Augen der Schneekönigin, eher die einer
feurigen Teufelin.
    »Sie sind pünktlich, Mr. Boyd .« Ihre Stimme war angenehm tief und rauh .
»Und Sie sehen genauso aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe: Verliebt in Ihr
eigenes, hübsches Profil. Aber dennoch sind Sie nicht so ausschließlich damit
beschäftigt, Ihr eigenes Spiegelbild zu bewundern, daß Sie eine Gelegenheit,
schnell und leicht ein paar Dollar zu verdienen, ungenutzt vorüberstreichen
ließen .«
    »Wenn Sie mich beleidigen
wollen, hätten Sie auch in mein Büro kommen können«, versetzte ich erbost,
»anstatt mich bei diesem Mistwetter auf die Straße zu locken .«
    »Seien wir doch mal ehrlich, Mr.
Boyd — für tausend Dollar würden Sie sogar in den East River springen .«
    »Nur im Sommer«, verteidigte
ich mich. »Aber was soll diese geheime Zusammenkunft? Sie haben mir nicht mal
Ihren Namen genannt. In dem Trenchcoat sehen Sie aus wie die Heldin aus einem
Spionagefilm .«
    Die Mundwinkel zogen sich zu
einem spöttischen Lächeln nach unten, während sie mich ein paar Sekunden
schweigend anblickte.
    »Ich muß vorsichtig sein«,
erklärte sie. »Haben Sie eine Zigarette ?«
    Ich bot ihr eine an und gab ihr
Feuer.
    »Weshalb müssen Sie vorsichtig
sein ?«
    »Weil mich jemand ermorden
wird«, gab sie sachlich zurück. »Und zwar sehr bald, glaube ich .«
    »Es wird Sie jemand ermorden?
Einfach so ?« fragte ich ungläubig.
    »Sie werden schon sehen«,
meinte sie.
    Ich seufzte. »Sie stehen zwar
am richtigen Fluß, aber an der falschen Straßenecke. Die Irrenanstalt Bellevue
ist noch ein gutes Stück weiter flußabwärts. Erstklassige Unterkunft für alle,
bei denen eine Schraube locker ist.«
    Sie überging meine Bemerkung
und blies mir eine blaue Rauchwolke ins Gesicht. »Ich möchte, daß Sie meinen
Mörder ausfindig machen, Mr. Boyd .«
    »Sie meinen«, widersprach ich
geduldig, »ich soll den Mann oder die Frau ausfindig machen, die einen
Mordanschlag auf Sie plant und ihn oder sie an der Ausführung hindern.
Richtig?«
    »Falsch«, fuhr sie mich an.
»Ich meine genau das, was ich sagte .«
    Einen Moment lang starrte ich
sie forschend an, doch ich konnte keine Anzeichen von Geistesgestörtheit
feststellen. Also zuckte ich mit den Schultern und sagte: »Dann also weiterhin
viel Glück, teure Freundin, und leben Sie wohl !«
    Ich hatte mich vielleicht drei
Schritte von ihr entfernt, als sie zu lachen begann. Der heisere, gemeine Klang
dieses Lachens verletzte meinen männlichen Stolz — und da gehört immerhin
einiges dazu.
    »Wollen Sie die tausend Dollar
nicht haben, die ich Ihnen am Telefon versprochen habe, Mr. Boyd ?« rief sie spöttisch.
    Als ich über die Schulter
zurückblickte, zog sie die rechte Hand aus der Manteltasche und brachte einen
wohlgefüllten Briefumschlag zum Vorschein. Sie mochte verrückt sein, überlegte
ich, aber eine
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