Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tänzer von Arun

Titel: Die Tänzer von Arun
Autoren: Elizabeth A. Lynn
Vom Netzwerk:
Körpern vorhanden zu sein schien – in seinem eigenen und zugleich in dem seines Bruders. Anfangs war er zu Tode erschreckt, er verstand gar nichts, er hatte Angst, er würde verrückt. Aber nach einiger Zeit begriff er, daß diese Augenblicke der Kontaktnahme ihm nicht wehtun konnten. Und sie traten auch nur einmal alle zwei, drei Wochen auf. Wenn ihm dies in der Öffentlichkeit geschah, nannte er sie seine »Anfälle«.
    Er hatte Josen davon erzählt.
    Der alte Mann hatte ihm ernst zugehört. »Sind sie schmerzhaft?« hatte er gefragt.
    »Nein.«
    »Unangenehm?«
    Kerris hatte versucht ehrlich zu antworten. »N-n-nein, verwirrend.«
    Josen hatte geseufzt. »Es tut mir leid, Kerris«, hatte er gesagt. »Aber ich weiß nicht, was es sein könnte.«
    Kerris hatte sich wie betäubt gefühlt. Immer hatte er geglaubt, daß Josen alles wisse – nun, fast alles. Geschichten waren ihm durch den Kopf geschossen. Vielleicht wurde er von einem Geist gequält oder von einem Dämon. Aber es würde nichts nutzen, Josen von solchen Dingen zu erzählen. Der alte Gelehrte glaubte nicht an Dämonen.
    »Was soll ich tun?« hatte er gefragt.
    Josen hatte seinen Gürtel zurechtgerückt. Diese Geste vollzog er stets, wenn er verlegen war. »Du könntest mit der Dorfheilerin reden.«
    Kerris war überrascht. Meist hatte Josen für die Dorfhexe kaum ein gutes Wort übrig – für die alte Tath. Sie galt als übellaunig, aber weise im Gebrauch von Kräutern. Nein. Er wußte, daß Tath kein Heilmittel für das zu bieten hatte, was ihn bedrängte, und außerdem hatte er Angst vor dem, was sie sagen könnte. Sie würde seine Ängste nur noch mehr schüren. »Tath kann Lungenfieber kurieren«, sagte er und streckte den kleinen und den Zeigefinger seiner Hand aus, in jener Geste, die er von Paula gelernt hatte. »Dies hier kann sie nicht heilen.«
    Josen hatte ihn nicht gefragt, woher er das wisse. (Kerris hätte es ihm auch nicht sagen können.) Josen sagte: »Wenn die Anfälle nicht schmerzhaft sind, dann mach dir deswegen keine Gedanken. Laß sie kommen und laß sie gehen! Sie werden irgendwann aufhören. Es besteht kein Anlaß, zu solch primitiven drastischen Methoden zu greifen.« Er sprach mit solcher Autorität, daß Kerris sich stark beruhigt gefühlt hatte. Damals mit dreizehn Jahren.
    Vielleicht hat er sich geirrt, dachte Kerris jetzt. Vielleicht hätte er mit der alten Tath reden sollen. Er kratzte an seinem Armstumpf, der zu jucken begonnen hatte.
    »Was ist mit dir?« fragte Josen.
    Irgendwo in den Wohnkemenaten weinte ein Kind, und Kerris merkte, wie sein Gedanke von diesem schrillen zornigen Kreischen durchbrochen wurde. »Ich habe heute morgen wieder einen Anfall gehabt. In der Küche«, sagte er.
    Josen schob die Lippen vor. »Bist du deswegen etwa beunruhigt?«
    Kerris schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muß nur darüber nachdenken.«
    »Weißt du«, sagte Josen, »ich habe von diesen Dingen überhaupt keine Ahnung. Aber es gibt vielleicht Leute, die etwas darüber wissen. In den Städten.«
    Kerris lachte. »Denk nicht mehr daran, Josen! Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß ich in absehbarer Zeit nach Tezera gehen werde. Außerdem habe ich mich daran gewöhnt. Die Anfälle stören mich nicht mehr.« Bei sich selbst dachte er: Und sie würden mich wirklich nicht stören, wenn ich wüßte, was sie bedeuten. Aber er wollte auch nicht mehr ohne sie sein. In jenen kurzen Augenblicken der Verbundenheit erlebte er das Gefühl, erfuhr er, was es bedeutete, mit einem Körper zu leben, der niemals verstümmelt worden war.
    Vor fünf Jahren, in dem Jahr, in dem er zwölf wurde, war Kerris in die Gemächer Morvens befohlen worden. Er ging voller Eifer. Mit zwölf Jahren erachtete man ein Kind für reif genug, an den täglichen Übungen im Waffenhof teilzunehmen, um jene Fertigkeiten zu erlernen, die den Knaben oder das Mädchen zum Erwachsenen werden ließen – ja, sogar ein Cheari zu werden. Tryg hatte den Übergang in jene Welt bereits hinter sich gebracht: sein Vater hatte ihm traditionsgemäß eine kleines, aber gebrauchstüchtiges Kampfmesser geschenkt. Und während Kerris die Gemächer des Herrschers betrat, glaubte er schon fast das Messer an seinem Gürtel hängen zu spüren, das Morven, wie er hoffte, ihm verleihen würde.
    Aber Morven hatte ihm sein Messer nicht gegeben. Er hatte statt dessen gesagt: »Der Waffenhof ist nichts für dich. Es wäre eine Verschwendung der Zeit des Meisters, wenn er dir die Kampftechniken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher