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Die Tänzer von Arun

Titel: Die Tänzer von Arun
Autoren: Elizabeth A. Lynn
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schenken. Mündliche Überlieferung wird nur allzu leicht zu Legenden und Mythen verfälscht.«
    Kerris lächelte. Er hatte diesen Sermon schon oft zu hören bekommen.
    »Zum Beispiel«, sagte Josen, »da gibt es einen Passus in der Geschichte der Regierung der Lady Sorren, aus dem man schließen könnte, daß sie selbst eine Cheari gewesen ist. In der gleichen Schriftrolle heißt es an anderer, späterer Stelle, daß sie eine Botschafterin war, eine Angehörige des Grünen Clans.«
    »Hätte sie nicht beides sein können?« fragte Kerris.
    »Das ist ziemlich unwahrscheinlich.« Josen sagte es mit Bestimmtheit. »Wozu sollte die Erbin Tornors sich dem Botschafter-Clan anschließen? Da war irgendein Schreiber achtlos, und jetzt werden wir die Wahrheit niemals erfahren – nur weil ein unaufmerksamer Schüler ein Wort falsch geschrieben hat.«
    Kerris grinste ihn an. »Wenn es nach dem Schwarzen Clan ginge, dann könnte kein Mensch irgendwas tun, ohne daß es gleich aufgeschrieben werden müßte.«
    »Die Geschichtsschreibung ist sehr wichtig«, sagte der alte Mann.
    »Ja.« Kerris stimmte ihm zu. Insgeheim aber überlegte er sich, ob überhaupt irgend etwas erledigt werden würde, wenn die Welt so funktionierte, wie Josen es sich wünschte.
    Aus dir wird niemals ein Schriftgelehrter, sagte seine innere Stimme.
    Störrisch vertrieb er diese Stimme. Er würde ein Schreiber sein, ein Gelehrter, und er würde die Aufzeichnungen fortsetzen, wenn Josen nicht mehr genug sehen konnte, um diese Aufgabe zu erfüllen. Er drehte die Kerbhölzer so, daß die Zeichen alle nach oben lagen. Sie trugen die alten Markierungen: eine Sichel für Korn, ein Horn für Ziegen, eine dreifache Granne (als Zeichen der dreifachen Ähren) für Gerste. Die mittlere Granne war am längsten. Kerris nahm sein Schreibzeug und zog über die Mitte des Blattes eine senkrechte Linie. Die altvertraute Arbeit nahm ihn gefangen. Kummer und Verwirrung wichen aus seinem Gesicht, es glättete sich, und der dumpfe Schmerz verschwand langsam aus seinem Armstumpf.
     
    Als die Tinte über das Blatt zu spritzen begann, hielt er inne. Er schnitt eine Grimasse über dem beklecksten Papier, er ärgerte sich. Nun würde er die ganze Arbeit noch einmal tun müssen. Er untersuchte die Spitze des Kiels. Wie er vermutet hatte, mußte sie zugespitzt werden. Er legte die Feder nieder und streckte seine verkrampften Finger. Es war sehr hell im Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand konnte man die Goldfäden im Gewebe des Teppichs gerade noch erkennen. Das Bild zeigte eine Kampfszene: ein Mann mit vergoldetem Bart scharte seine Männer um sich. Die in den Zinnen des Turms nistenden Tauben klatschten mit den Flügeln und gurrten.
    »Josen?«
    Der alte Mann hob den Kopf. Das Haar stand ihm vom Schädel in feinen dünnen Seidenfransen ab. »Hmm?« Es dauerte einen Augenblick, ehe seine Augen ihren Schimmer verloren.
    »Mach eine Pause. Mein Kiel muß geschärft werden.«
    Der Gelehrte blickte auf das Blatt, das er gerade abgeschrieben hatte. Behutsam rollte er es wieder zusammen. Er hatte mit den jüngsten Rollen angefangen und sich dann langsam weiter in die Vergangenheit zurückgearbeitet. Manche der allerältesten Schriftrollen waren so mürbe, daß sie bei der leichtesten Berührung zu Staub zerfielen. »Hmm.« Er nahm den Federkiel auf, den Kerris verwendet hatte, und besah sich das ausgefranste Ende. »Du brauchst einen ganz neuen Kiel«, sagte er beiläufig. Er strich mit der Hand durch die Federn. »Aber ja, eine Pause. Das ist eine gute Idee.« Er erhob sich aus seinem Stuhl. »Machen wir einen Rundgang auf der Mauer, vertreten wir uns die Beine.«
    Wie die anderen Trutzburgen an der Nordgrenze war auch Tornor Keep erbaut worden, um einen Angriff abzuwehren. Es hatte zwei Festungswälle, die konzentrisch angelegt waren. Die Mauern waren mit Schießscharten gezähnt, hatten eine glatte Außenfläche und wirkten furchteinflößend. Innerhalb der Inneren Mauer lagen die einzelnen Gebäude des Forts: die Halle, die Unterkünfte der Soldaten, die Stallungen und Vorratsdepots, der Waffenhof, die Schmiede und die Wohngemächer. An der Mauerkrone verlief ein steinerner Umgang, breit genug, daß drei Mann nebeneinander gehen konnten. Der äußere Festungswall war niedriger als der innere, aber auch er hatte einen Umgang und war gleichfalls sehr dick und mit Zinnen versehen. In beiden Mauern waren in regelmäßigen Abständen Schießscharten für die Bogenschützen
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