Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Suche nach dem Regenbogen

Titel: Die Suche nach dem Regenbogen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Prolog
    S eit zwei Jahrhunderten hatte er gewartet, gewartet in einer Kiste, in die ihn die Hexenmeister gesperrt hatten, die einst durch diese Gänge gewandelt waren. Er konnte hören, wie über ihm Schaufeln auf dem verschütteten Mosaik kratzten. Es hatte Mitternacht geschlagen. Jenseits der morastigen Baustelle ragte die dunkle Ruine einer Mauer, die ehemals zum äußeren Bezirk des Temple gehört hatte, in den schwarzen Abgrund der Nacht. Ein frostiger Wind teilte die Winterwolken, und das schwache Licht der Sterne fiel auf gestapelte Steine und das Gerüst für ein neues Gebäude. Noch ein paar Monate, und ein festgefügtes Zunfthaus würde ihn auf ewig von der Erdoberfläche trennen. Doch jetzt hörte er, wie in der tiefen Dunkelheit unverkennbar Metall auf Stein stieß. Endlich, sie kamen.
    In der Grube, die man für das neue Fundament ausgehoben hatte, schaufelten zwei Männer in schweren Stiefeln und ledernem Wams, die trotz der Kälte gewaltig schwitzten, Erde aus. Oben leuchtete ihnen ein Aufpasser, der sich gegen die Kälte mit Umhang und Stiefeln geschützt hatte, mit einer Laterne.
    »Onaim, perantes, rasonastos «, psalmodierte der Mann mit der Laterne. Er sah seltsam aus, denn unter seinem schweren Umhang verbarg sich eine groteske kugelförmige Gestalt. Seine Stimme klang widerlich einschmeichelnd. In sein bleiches, aufgedunsenes Gesicht hatten sich vor langer Zeit Zornesfalten tief eingekerbt. Die kalt und klug blickenden hellgrünen Augen bekamen jede Bewegung ringsum mit. »Hebt den Schatz ans Licht«, psalmodierte er. »Entdecke ihn, o Satanas, unseren sterblichen Augen.« Sacht fuhren die behandschuhten Finger über einen kabbalistischen Talisman, der an einer Bullensehne um seinen Hals hing. Dem metallischen Geklirr der Schaufeln folgte ein schauerlicher, beinahe menschlicher Schrei.
    »Psst. Haltet ein. Da kommt jemand«, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme. Die Männer in der Grube hörten auf zu schaufeln und blickten hoch. Für einen Augenblick leuchtete das Weiß ihrer Augäpfel im Lichtschein, dann verdeckte der Mann über der Grube die Laterne mit seinem Umhang. Sie lauschten angespannt und still. In den Ruinen scharrte etwas.
    »Teufel«, flüsterte der schlanke Mann in der Grube und wurde blaß.
    »Unfug. Rollige Katzen«, höhnte sein kräftiger dunkeläugiger Gefährte. »Reicht uns das Licht herunter, Sir Septimus, ich glaube, wir sind auf ein Mosaik gestoßen, genau an der Stelle, wo es sich Eurer Karte zufolge befinden sollte.« Crouch rührte sich nicht, seine Augen glänzten frostig und haßerfüllt. Er war es nicht gewohnt, Befehle zu erhalten. »Das Licht«, wiederholte der jüngere Mann und säuberte das Mosaik mit der Stiefelkante von Erde. »Wir müssen nach dem Symbol suchen.«
    »O ja, natürlich, natürlich«, sagte der Mann oben, doch seine Worte klangen heuchlerisch freundlich. Vorsichtig beugte er den mächtigen Leib und reichte die Laterne nach unten. Er schnaufte vor Anstrengung.
    »Bitte schaut Euch einmal diesen Fußboden an, Master Ludlow. Das ist ein Mosaik. Gut gearbeitet, könnte fast antikrömisch sein.«
    »Master Dallet, Eure Meinung über das Mosaik dürfte kaum interessieren. Spart Euch Euer künstlerisches Urteil für eine gelegenere Tageszeit«, blaffte ihn der Mann neben ihm an. Sein schmales Gesicht war blaß von der ungewohnten Anstrengung. Strähniges, glanzloses Haar fiel ihm vor die Augen. Er schob es mit einer Hand beiseite, an der sich bereits Blasen gebildet hatten.
    »Advokaten, das nutzloseste Gesindel im ganzen Königreich. Schaut Euch das an, Ludlow: Lapislazuli – allein das Mosaik lohnt schon die Mühe des Ausgrabens und Verkaufens –«
    Master Ludlow schwieg verärgert. Oh, wie er diesen Meistermaler wegen seiner Dreistigkeit, seiner Flegelhaftigkeit und seiner Jugend verabscheute. Es war ein Fehler von Sir Septimus gewesen, daß er diesen unehrerbietigen, aufgeblasenen Parasiten in ihren Kreis und in ihre Geheimnisse eingeführt hatte. Gleichwohl, sie brauchten ihn wegen seiner Kenntnis der Symbole…
    Auf einmal begann der Künstler wieder zu graben. Der flackernde Lichtkreis, den die Laterne warf, hatte Teile einer Figur sichtbar gemacht.
    »Was ist das, Dallet? Ein geflügeltes Pferd?« Sir Septimus Crouch, Antiquar, Prasser und Meister in der Beschwörung höllischer Geister nach der Methode von Honorius, kniete über ihnen im Dreck, damit er das Muster, das die Schaufel des Künstlers freigelegt hatte, besser sehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher