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Sine Culpa

Titel: Sine Culpa
Autoren: Elizabeth Corley
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September, Gegenwart
    Im letzten Zug von London nach Harlden sank er in einen schmuddeligen Sitz und stieß einen Seufzer aus, der sich anfühlte, als hätte er ihn sein Leben lang zurückgehalten. Andrew Fenwick war körperlich und seelisch ausgelaugt. Am liebsten hätte er den Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen, aber er konnte nicht, und das lag nicht an der schmierigen Kopfstütze, sondern an seinem Gewissen. Diesen Abend hatte er endlich die Lösung einer schon fast vergessenen Straftat gefunden, die über zwei Jahrzehnte lang unaufgeklärt geblieben war. Doch statt über den Erfolg froh und erleichtert zu sein, sah er sich mit dem größten Dilemma seiner Karriere konfrontiert.
    Aufgrund des Wissens, das er nun besaß, lag das Schicksal eines guten Menschen in seiner Hand, und obwohl seine Pflichten als Polizeibeamter völlig klar waren, widersprachen sie in diesem Fall seinem persönlichen Gefühl dafür, was richtig war. Er schloss die Augen, versuchte, ruhiger zu werden und das Dilemma in aller Ruhe zu durchdenken, aber es war unmöglich. Die Schwere der Entscheidung lastete auf ihm, und alles Wunschdenken konnte sie ihm nicht von den Schultern nehmen. Er hatte keine andere Wahl, als über die Zukunft eines Menschen zu entscheiden, und dafür blieb ihm nur die Atempause, die ihm die Zugfahrt nach Hause bot.
    Er blinzelte, um wach zu bleiben, und sein Blick fiel auf seine Hände, die locker auf den Oberschenkeln ruhten. Einen bizarren Augenblick lang stellte er sich die Freiheit des Mannes in der linken Hand vor und in der rechten das Urteil, das die Gesellschaft fällen würde, sollte die Wahrheit bekannt werden. Wenn er sie enthüllte, käme das seiner Karriere zugute, gerade jetzt, wo er mal wieder für eine Beförderung in Betracht gezogen wurde, obwohl ihm von den maßgeblichen Stellen wie immer keinerlei Unterstützung zuteil wurde. Dann ballte er beide Fäuste und entspannte die Muskulatur langsam wieder, als ihm die Sinnlosigkeit seiner Gedanken klar wurde.
    Der Zug beschleunigte ratternd, schwankte über Weichen, raste durch Bahnhöfe, die schon für die Nacht geschlossen hatten, und trug ihn auf einen Zeitpunkt in der Zukunft zu, an dem die Entscheidung gefallen und das Schicksal bestimmt sein würde. Er hatte sich immer für einen Mann gehalten, der schwierige Entscheidungen treffen konnte, hatte gerade das sogar als eine seiner Stärken betrachtet, jetzt jedoch, wo er wirklich auf die Probe gestellt wurde, musste er einsehen, dass er kein König Salomon war. Also griff er wie immer, wenn sein Verstand sich sträubte, auf ein altes Hilfsmittel zurück und nahm Notizblock und Stift zur Hand. Auf ein leeres Blatt Papier schrieb er die Frage, die ihm im Kopf kreiste wie ein Kinderrätsel, seit er die Wahrheit entdeckt hatte: »Wann ist ein Mörder kein Mörder?«
    Der Satz starrte ihn an. Bei dem Verbrechen, das er aufgeklärt hatte, handelte es sich immerhin um Mord, nicht um irgendein Bagatelldelikt. Mit einem frustrierten Seufzer riss er die Seite vom Block, knüllte sie zusammen und stopfte sie in die Tasche, damit seine Gedanken nicht bei dem Unrat auf dem Fußboden landeten. Auf seiner Uhr war es nach elf, als er mit der flachen Hand über ein frisches Blatt strich und erneut versuchte, sich zu konzentrieren.
    Er schrieb den Namen des Mannes auf – seinen richtigen Namen. Darunter zog er einen Längsstrich. Auf der einen Seite listete er die Fakten auf, die für die Schuld des Mannes sprachen. Die Argumente für seine Verteidigung kamen auf die andere Seite, und sie waren so zahlreich, dass der Platz nicht ausreichte. Dann blickte er auf das Ergebnis seiner Arbeit und stellte sich vor, er wäre Richter und Geschworener. Es gab so viele Gründe für ein mildes Urteil, aber diese Entscheidung stand ihm nicht zu. Durfte er seine vielen Jahre als überzeugter, gewissenhafter Gesetzeshüter verraten, weil er in diesem Fall nicht darauf vertrauen konnte, dass das Gesetz gnädig sein würde? Langsam bewegte sich der Stift über das weiße Papier, hinterließ Fenwicks Gedanken darauf. Noch langsamer nahm allmählich eine Entscheidung Gestalt an. Und schließlich erreichte er sein Ziel.

TEIL EINS

1
Juni, Gegenwart
    Die Siedlung Castleview Terrace schmiegte sich an einen Überrest der alten Stadtmauer von Harlden, und sämtliche Häuser waren mit ihren dezenten Farben und dem hübschen Backsteinmauerwerk im traditionellen Cottagestil gehalten. Die dunkelblaue Eingangstür des Eckhauses
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