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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Flöhe zählen und du sie seit vierzehn Tagen nicht mehr in die Kirche gebracht hast?«
    »Kinder sind eine große Plage. Man kann von einem Mann nicht erwarten, daß er Kinder aufzieht.«
    »Dann heirate die Witwe, Mann! Die wird die Kinder schon aufziehen.«
    »Sie ist zu fett.«
    »Nicht so fett, als daß du nicht mit ihr geschlafen hättest.«
    »Sie ist zu alt und hat eine laute Stimme.«
    »Sie ist wohlhabend und hat zwei große, starke Söhne, die dir auf dem Feld zur Hand gehen können.«
    »Zwei große Mäuler mit noch größeren Bäuchen, meint Ihr wohl?«
    »Gesprochen wie ein Hintersasse, oder bist du etwa nicht freigeboren?«
    »Ich bin ein freier Mann, frei und ledig, und das gedenke ich auch zu bleiben.«
    »Und ich sage dir, du elender Sünder, wenn du nicht nächste Woche das Aufgebot bestellst, dann werde ich dafür sorgen, daß man dich einsperrt, bis du bereust!«
    Ein Stöhnen und dann ein Krachen, als der Hingelümmelte sich im Bett umdrehte.
    »Dann bestellt es und Fluch über Euch.«
    »Ich bestelle es, und Heil über dich, du gemeines, gotteslästerliches Stück fauligen Fleisches!«
    Und schon kam Hochwürden Ambrose zornigen, schnellen Schrittes aus der Tür. Wir saßen so unschuldig da, als hätten wir nichts gehört. Als der Priester auf die Schwelle trat, erblickte er uns und wischte alle Anzeichen von Wut aus seinem Gesicht. Er musterte David noch einmal und säuselte dann:
    »Bist du ein lieber, kleiner Junge?«
    David nickte.
    »Lügst nicht, stiehlst kein Obst?«
    »Nein, Vater.«
    »Kleiner David, ich brauche einen ganz lieben, kleinen Jungen als Meßdiener. Wenn du mir helfen willst, wirst du das Weihrauchgefäß schwenken und die heiligen Worte ganz aus der Nähe hören. Und wenn du ganz, ganz lieb bist, wirst du unzählige Engel erblicken, die sich jedes Mal im Allerheiligsten versammeln, wenn die heilige Messe gelesen wird.«
    Davids Augen wurden groß. Wie war der Priester nur dahintergekommen, daß wir schon stundenlang in den Himmel gestarrt und gehofft hatten, hinter den Wolken einen Blick auf die Engel zu erhaschen. Aber ich wußte, was Hochwürden Ambrose in Wahrheit bewegte. Als ich sah, wie er David von Kopf bis Fuß musterte, da war mir klar, daß er sich dieses liebliche Antlitz schon über einem weißen Kragen vorstellte und im Geiste Davids strahlenden, hellen Diskant auf Latein singen hörte! Jedem kamen bei Davids Anblick solche Gedanken. Selbst schmutzig sah er danach aus.
    »Ich wäre gern Euer Meßdiener, Hochwürden Ambrose«, sagte David so steif und förmlich wie er nur konnte.
    »Also gut. Komm heute nach der Vesper zu mir, dann werde ich dir alles Weitere erklären.«
    Als Vater Ambrose sich wieder auf den Weg zum baumbeschatteten Portal der alten, steinernen Kirche machte, hörte ich ihn vor sich hinbrummeln:
    »In dem Haus gibt es noch Seelen zu retten.«

    Und so geschah es, daß nur ein paar Wochen später die neue Mutter bei uns einzog; sie kam oben auf ihrem Bettzeug und den Kochtöpfen in einem großen Karren angefahren, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Hinten war eine Milchkuh angebunden, und daneben liefen zwei stämmige Jungen, unsere neuen Stiefbrüder, Rob und Will, welche die Ochsen an der Leine führten. Ein paar unscheinbare Hunde rannten vor dem Karren her, die hielten sich die neuen Brüder für ihren Lieblingssport: Hundekämpfe. In Körben, außen am Karren befestigt, fuhren vier Gänse, etliche Hennen und zwei prachtvolle Kampfhähne mit. Schon aus der Ferne konnte man den Gestank einer Frettchenkiste riechen. Die neue Mutter war wohl auch Jägerin.
    Ihre Basen im Dorf hatten erzählt, sie sei reich und hochfahrend. Von Anbeginn an war klar, daß sie recht hatten. Sie besaß eine viereckige Lade, in der sie ein halbes Dutzend Laken, einen Satz geschnitzter Holzlöffel, ihre Nadeln und ihre Kunkel, vier gute, scharfe Messer und sogar ein Säckchen mit Silbermünzen aufbewahrte. Sie tat vornehm, weil sie direkt aus St. Matthew's stammte, jener Stadt, die sich zu Füßen der Abtei hinschmiegte. Als der Karren unsere Dorfstraße entlangrumpelte, erwiderte sie die Grüße der Gassenjungen mit einem kalten Nicken, rümpfte die Nase beim Anblick der Dorfkirche und murmelte beim dörflichen Fischteich: »Der von der Abtei ist viel größer.« Beim Dorfanger mit seinem kleinen Kreuz aus Marktständen und dem Stock, an dem nicht ein einziger Irregeleiteter von Bedeutung am Pranger stand, schürzte sie die Lippen.
    »Gib acht, wenn du die Lade da
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