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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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konnte.
    Selbst von der Straße aus fiel Roger Kendalls Vorliebe für die Annehmlichkeiten des Lebens ins Auge, und Bruder Gregory verstand unschwer, warum diese Frau so verwöhnt war. Die Fenster waren ungewöhnlich für ein Wohnhaus. Zwischen leuchtend grün und rot bemalten, geschnitzten Läden gab es richtige Fensterscheiben aus mit Blei gefaßten, dicken, runden Butzenscheiben, die man zusammengesetzt hatte. Auf dem großen Balken über der Haustür stand zwischen zwei tief eingelassenen Kreuzen unter einer Darstellung von Kendalls Wappen der Wahlspruch des Hauses geschnitzt: Dextra Domini Exultavit Me.
    Bruder Gregory musterte das Wappen über dem Wahlspruch: ja, es war die richtige Adresse, ganz gewiß. Wenn das nicht wie das Wappen eines Handelsherren aussah! Ein Löwe war nicht vorhanden, und wahrscheinlich war es nicht einmal offiziell eingetragen. Drei Schafe, eine Waage und eine Seeschlange. Der Mann machte ganz entschieden klar, wie er zu seinem Geld gekommen war. Bruder Gregory hob den schweren Türklopfer aus Messing. Es währte nur Minuten, und schon führte man ihn herein und hieß ihn in der großen Diele warten. Während er auf einer Bank saß und sich das gemalte Wappen auf dem Schornstein über der großen Feuerstelle ansah, neben sich seinen verfilzten Schaffellumhang, da überlegte er, wie lange es wohl dauern würde, bis sie des Vorhabens überdrüssig wurde. Wieviel konnte eine Frau auch schließlich zu sagen haben? Ein paar Tage nur, vielleicht eine Woche, und sie hatte etwas Neues gefunden, womit sie spielen konnte, und er würde sich in Ruhe wieder seinen Meditationen widmen können. Die Holzklötze glühten in den Flammen; auf der großen Diele war es behaglich und warm. Von der Küche her, hinter dem breiten Wandschirm am Ende der Diele drang Essensduft und stieg ihm in die Nase. Ja, mit ein bißchen Glück konnte er wohl auf ein paar Tage hoffen, ehe er sich frisch gestärkt wieder auf seine Gottsuche machte.

    »Wo wollt Ihr anfangen?« fragte Bruder Gregory.
    »Beim Anfang, als ich klein war«, antwortete Margaret.
    »Mithin habt Ihr seit Eurer Kindheit Stimmen gehört?« Bruder Gregorys eigene Stimme klang gedankenverloren.
    »O nein, als ich klein war, da war ich genau wie alle anderen. Die einzigen Stimmen, die ich gehört habe, waren die von Vater und Mutter. Es gefiel ihnen nicht, wie ich mich entwickelte. Aber so geht das Eltern eben. Nicht alle Kinder geraten gleich gut. Darum dachte ich mir, wir beginnen da – bei meiner Familie und wie alles so ganz anders anfing als es endete.«
    »Sehr gut, man fängt am besten immer am Anfang an«, sagte Bruder Gregory mit einer gewissen Ironie und spitzte einen Federkiel mit seinem Messer an. Margaret fiel an dieser Bemerkung überhaupt nichts auf. Sie fand sie ganz angebracht.

    Vermutlich war es zwei Sommer nach dem Tod unserer Mutter, daß unser Leben eine neue Wende nahm und unseren Fuß auf eben die so ganz anderen Pfade setzte, die wir jetzt wandeln. Mit ›uns‹ meine ich natürlich meinen Bruder David und mich. Ich war ein kleines Mädchen, sieben, vielleicht auch sechs Lenze, wenn ich mich recht erinnere. David und ich hingen aneinander wie Zwillinge, obwohl er ein Jahr jünger war als ich. Wir machten alles zusammen. Am liebsten saßen wir in unserem Apfelbaum, aßen Äpfel und spuckten die Kerne auf die Erde, und zur Zeit der Aussaat rannten wir über die Felder und kreischten und fuchtelten mit den Armen, um die Vögel von den Saaten zu verscheuchen. Alle sagten, wir machten unsere Sache sehr gut. Da Mutter tot war, kümmerte sich Vater nicht viel um uns, und so strolchten wir umher wie die Wilden und redeten in einer seltsamen, ausgedachten Sprache miteinander, die niemand außer uns verstehen konnte. Obwohl er ein Junge war und ich ein Mädchen, dachten wir, es müßte ewig so weitergehen.
    Aber nichts geht ewig so weiter, auch wenn es zuweilen den Anschein hat. Man denke beispielsweise nur an unser Dorf. Es war so alt wie Gottes Fußabdrücke im Garten Eden, und doch ist es jetzt verschwunden. Die Pest hat es in eine Schafweide verwandelt. Nur noch in meiner Erinnerung ist es so wie damals. Immer noch sehe ich die kahlen Berge des Nordens vor meinem inneren Auge, wie sie sich schartig hinter den flachen, bestellten Feldern im Tal erheben, und auch den Bach, wie er gleichsam als tiefer, schmaler Einschnitt dahinfließt und Kirche, Dorfanger und die größeren Häuser von den Katen der Hintersassen auf der anderen Seite der
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