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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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herunterhebst!« rief sie schrill, als Vater herbeikam, um ihre Besitztümer abzuladen. Mit einem Blick ihrer blassen, blauen Fischaugen erfaßte sie wortlos unser unordentliches Haus, den verwilderten Kräutergarten meiner Mutter und die Rosen, die ungebärdig die Mauern entlangwucherten. Als sie alles in sich aufgenommen, ihre Kuh losgebunden, ihre Frettchen im Haus untergebracht und ihr Geflügel freigelassen hatte, da sagte sie kurzangebunden zu Vater:
    »Hugh, hier muß aufgeräumt werden.«
    Ei, und sie räumte auf: Sie fegte die Hundeknochen und die Abfälle zur Hintertür hinaus, legte die Decken zum Lüften in die Fenster, fachte das schwelende Feuer an und setzte in ihren Töpfen Essen auf. Dann packte sie mich beim Ohr und sagte, daß sie jetzt ein richtiges kleines Mädchen aus mir machen würde, und nickte ingrimmig, als sich herausstellte, daß ich nicht spinnen konnte. Als Rob und Will, ihre beiden großen Lümmel, darüber grinsten, wie sie mit mir umging, fuhr sie herum und zog ihnen eins über den Kopf mit einem Stock, den sie irgendwie immer zur Hand zu haben schien. Sie heulten auf, flohen und taten es David nach, der sich wohl schon beim ersten Anblick des herannahenden Karrens aus dem Staub gemacht hatte.
    Je länger ich meine neue Mutter betrachtete, desto weniger mochte ich sie. An das Gesicht meiner eigenen Mutter konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber ich war überzeugt, es war viel schöner gewesen – und eines wußte ich ganz sicher, meine eigene Mutter hatte sehr viel besser gerochen. Es gibt Menschen, die sind gänzlich säuerlich: im Aussehen, in ihrer Rede und in ihrem Geruch, und so war meine neue Mutter. Meine richtige Mutter konnte lieblich singen, und ich weiß noch ganz genau, daß sie weiche Hände hatte. Die Menschen starrten sie denn auch an und redeten immer noch von ihr, obwohl sie doch schon bei den Engeln war. Sie hatte irgend etwas Geheimnisvolles an sich, daß selbst der Priester, der doch immer so streng mit Frauen war, ihr Achtung entgegenbrachte. Wenn ich doch nur wüßte, was das gewesen ist. Jetzt sahen wir mit an, wie die neue Mutter im Haus herumwatschelte, das farblose, strähnige Haar unter ein fettiges Kopftuch gestopft, und auf alles und jedes einschlug, was sie ärgerte, und sich schrill beklagte. Dann fragte ich mich wohl, wie Vater sich wohl mit ihr einlassen konnte, wo er doch einmal mit Mutter verheiratet gewesen war. Kann sein, es war das Geld.
    Zu Petri Kettenfeier heiratete mein Vater die neue Mutter vor dem Kirchenportal, und so begann unser neues Leben. Doch nur ein paar Wochen nach der Hochzeit war für jedermann, der Augen im Kopf hatte, offenkundig, daß Mutter Annes Beleibtheit nicht allein von der Freßgier herrührte und daß das Kind schon bald kommen würde. Zu Martini, nachdem das Dorfvieh geschlachtet und gepökelt war und Vater dabei war, unser eigenes Schwein zu schlachten, kam sie in die Wochen. Auf einem großen Feuer sotten draußen in großen Töpfen Roggen und Hafer für den Blutpudding; die Gewürze für die Wurst standen schon bereit, als ein merkwürdiger Ausdruck über ihr Gesicht huschte.
    »Margaret, hol mir Oma Agnes und mach schnell, meine Zeit ist gekommen.« Inzwischen hatten Vater und meine Brüder das gräßlich quiekende Schwein an den Hinterläufen hochgehoben. Während sie die große Holzschüssel hielt, stieß Vater dem Schwein sein scharfes Messer tief in die Kehle. Mutter Annes Gesicht glänzte schweißnaß, als sie den Blutstrom auffing, der aus dem Hals des Schweins hervorsprudelte. Erschrocken rannte ich den ganzen Weg zu der kleinen, runden Hütte der Wehmutter und trug ihr auf dem Rückweg den Korb, während die alte Frau langsam hinter mir herhumpelte.
    Noch ehe wir bei unserer Haustür angelangt waren, hörte ich Mutter Anne drinnen schreien. Vater war seelenruhig dabei, das Schwein bis ins letzte zu zerlegen; die Speckseiten waren schon herausgeschnitten, und auf dem Block thronte der große, blutleere Kopf mit eingesunkenen und glasigen Schweinsäuglein und heraushängender Zunge. Ein paar gutherzige Nachbarinnen hatten sich eingefunden, die Mutters angefangene Arbeiten zu Ende brachten, denn keine davon hatte Zeit bis morgen. Eine goß ausgelassenes Fett in eine Blase, eine andere hatte Därme ausgewaschen und band nun die Würste zu, und die dritte, die beim Rühren des Blutpuddings eine Pause eingelegt hatte, war hineingegangen, um Mutter die Hand zu halten. Als ihr Gestöhn und Geschrei dann einmal
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