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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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wurde, er hatte zwischen seinem literarischen Geschmack und seinem Essen in der Küche zu wählen.
    »Sie sind Zeuge, wie die Frucht der Sünde herabfällt«, knurrte er in sich hinein.
    »Was war das?« Sie blickte ihn an.
    »Gott möchte uns durch die Art unserer Entstehung demütigen«, sagte er laut – und vornehmlich mich, dachte er bei sich, als ihm der Duft aus der Küche wieder einfiel.
    »Freut mich, daß Ihr es seht wie ich«, sagte Margaret. »Also, diesen neuen Absatz könnt Ihr oben auf die Seite da setzen, dorthin. Schreibt groß, das sieht so hübsch aus.«

    Aber ich wollte doch aufgeschrieben haben, wie die Ereignisse von damals Fortunas Rad in Bewegung setzten, so daß David und ich für immer getrennt wurden, und das will ich auch. Die neue Mutter und die neuen Brüder und der neue Säugling trieben David immer öfter ins Pfarrhaus.
    »Was machst du denn die ganze Zeit bei Vater Ambrose, David?« fragte ich ihn, als er eines Abends zurückkehrte.
    »Ach, er zeigt mir und Robert, dem Jungen vom Gerber, alle möglichen herrlichen Dinge. Den Jungen vom Küfer hat er rausgeworfen, weil er gelogen hat, aber er sagt, wir sind lieb und lernen gut.«
    »Was lernst du denn noch außer Meßgehilfe?«
    »Ach, viele Dinge. Da, sieh mal, Schwester!« Und er zog mit einem Zweig mehrere Buchstaben in den Staub. »Das ist mein Name! David!« sagte er triumphierend.
    »Ach, das sieht aber hübsch aus, David. Kannst du auch ›Margaret‹ schreiben?« Er machte ein betrübtes Gesicht.
    »Es ist ein ›M‹ drin, soviel weiß ich, aber er ist schrecklich lang. Vielleicht kann Vater Ambrose mir das zeigen, und dann zeige ich es dir.«
    »Ehrenwort?«
    »Ehrenwort, ich verspreche es hoch und heilig.«
    »Dann zeig mir das ›M‹ jetzt, damit ich es erkenne.«
    »Vielleicht sollte ich zuerst Vater Ambrose fragen. Er sagt, es gibt ein paar Dinge, die sind richtig geheim und ziemen sich nicht für Frauen –«
    »Aber ein ›M‹ ist kein Geheimnis. Du hast mir schon davon erzählt, also ist es gar nicht mehr geheim, kein kleines bißchen. Und dann bin ich auch keine Frau, sondern deine Schwester.« David sorgte sich so sehr, daß er ein ganz betrübtes Gesicht machte. »Na gut. Paß auf, ich zeig's dir.«
    Und auf diese Weise lernte ich den Buchstaben ›M‹, mit dem ich unterzeichne an Stelle des Kreuzes, wie es andere Leute machen.
    »Was tust du da, Margaret, Maulaffen feilhalten?« Aus dem Haus drang Mutter Annes schrille Stimme, begleitet von dem immer lauteren Gebrüll des Säuglings.
    »Ich spinne, Mutter, ich spinne und unterhalte mich dabei mit David.« Doch es stimmte nicht, denn die Kunkel hatte geruht, seit ich David auf der Straße erblickt hatte.
    »Mit David?« Sie steckte den Kopf zur Tür heraus, und das Kind an ihrer Brust machte gierige Schlürfgeräusche.
    »Komm herein, Kind, komm herein – draußen ist es kalt, und zum Abendessen gibt es einen guten Eintopf. Was sind denn das für Zeichen? Schrift? Wie furchtbar klug du doch bist! Ja, du könntest doch Priester sein!« Sie strahlte David an. Mutter eines Priesters, so sahen die herrlichen Träume aus, in denen sie sich wiegte. Welch großartige Stellung ihr das verschaffen würde! Wie man sich verneigen würde, wenn sie sich zusammen mit ihrem Sohn, dem Priester, zeigte! Genoß doch bereits die Mutter eines Knaben mit rein gar nichts als der ersten Tonsur Achtung. Und angenommen, er bekam eines Tages eine Pfarre und würde »Hochwürden David« genannt? Dann erblickte sie die jämmerlichen Spinnversuche auf meinem Schoß.
    »Und du, Margaret, was ist denn das für ein Durcheinander auf deinem Schoß? Das nennst du spinnen? Solche Knoten und Knäuel, wie du sie machst, das ist die reine Verschwendung von guter Wolle. Wenn Müßiggang und Schwatzen sich so ungut auf deine Arbeit auswirken, dann mußt du dir mehr Mühe geben und das Reden unterlassen. Nun kommt schnell herein, sonst verbrennen mir noch die Pfannkuchen in der Pfanne.« Wir beeilten uns, daß wir uns zu unserem Vater, den beiden Großen und dem Knecht zum Abendessen setzten.

    An jenen kalten Adventtagen wurde es früh dunkel, und so lagen wir bald im Bett, und nur die trübe Glut des mit Asche abgedeckten Feuers spendete ein schwaches Licht. Damals, ehe wir anbauten, bestand das Haus aus einem einzigen Raum mit dem Herdfeuer in der Mitte und einer Art Abtrennung an einem Ende, wo man das Vieh zur Nacht unterstellen konnte. Dort hinten, wo die Ochsen und der Knecht schliefen, gab es
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