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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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aufhörten, tätschelte sie ihr die Hand, ließ sie fallen und kehrte an ihre Arbeit zurück. Mutter, über deren Gesicht der Schweiß nur so lief, erwiderte kaum den Gruß der Wehmutter. Sie saß auf dem niedrigen Gebärstuhl, stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand und war ganz bei der Sache.
    Oma Agnes tat sehr geschäftig. »Margaret«, sagte sie, »mach Wasser in einem Zuber warm, damit wir das Kind baden können, wenn sich im Haus überhaupt noch ein Zuber anfindet. Hier gibt es viel zu tun.«
    Einen Zuber hatten wir nicht, also rannte ich zum Nachbarn und lieh mir einen aus, der es wohl tun würde. As ich zurückkam, hielt Oma Agnes Mutters Hand und sang mit ihrer brüchigen Stimme dreimal hintereinander: »Lazarus komm herfür«, um die Wehen zu beschleunigen. Tränen rannen Mutter aus den Augen, und ihr Gesicht war rot. Dann stießen beide Frauen einen Schrei aus, als nämlich der Kopf geboren wurde. Oma Agnes kniete sich zwischen Mutters hochgezogene Knie und half erst dem Kopf, dann dem Rumpf und den Gliedmaßen auf die Welt.
    »Ein Junge!« rief Oma Agnes, und Mutter wiederholte die Worte flüsternd. Als der Säugling anfing zu greinen, wechselte seine Farbe von blau zu rosig. Mutter starrte ihn erschöpft an, während Oma Agnes die Nachgeburt holte und die Nabelschnur durchtrennte. Die Nachbarinnen hatten eine Pause eingelegt, damit sie den großen Augenblick nicht verpaßten, und drängten sich jetzt auf der Schwelle. Ein Neugeborenes wirkt auf Frauen unwiderstehlich, und die hier bildeten keine Ausnahme. Von jetzt an hatte es Oma Agnes leicht, denn sie wuschen und windelten es und standen dann drum herum und gurrten und girrten. Während sie immer wieder laut sein Aussehen bestaunten, holte Oma Agnes Vater, daß er es taufen ließe. David wurde losgeschickt, die Paten aufzutreiben, während Vater, Mutters Klatschbasen und die Wehmutter das Kind im Triumph zur Kirche trugen. Ich wartete bei Mutter Anne, die schrecklich in Sorge war. Was, wenn der Säugling nun am Taufstein nicht schrie? Das würde doch bedeuten, das Weihwasser hatte den Teufel nicht ausgetrieben. Ein schlimmes Vorzeichen wäre das. Ihre beiden älteren Söhne hatten ihre Taufe friedlich verschlafen.
    Doch schon bald brachte man ihn Mutter Anne ganz rotgesichtig zurück, daß sie ihn an ihre großen Brüste anlegte. Während Vater Oma Agnes in Speck ausbezahlte und sie ihren Korb wieder packte, wußten Mutters Klatschbasen voller Freude zu berichten, das Kind hätte furchtbar gebrüllt, als das Weihwasser es berührte. Jetzt hatte Mutter das Kind wohlbehalten im Arm, und so verabschiedeten sich ihre Nachbarinnen und beredeten fröhlich, was sie zum Dankgottesdienst für die Wöchnerin an Gerichten mitbringen wollten.
    Mir kam an jenem Tag noch ein anderer Gedanke, und den bin ich seither nicht mehr losgeworden. Ein Fest ist etwas sehr Schönes, und ich habe seit jenem Tag einige ungemein prächtige Dankfeste für Wöchnerinnen mitgefeiert. Aber warum muß eine Frau eigentlich vor dem Kirchenportal knien, weil sie nach der Geburt eines Kindes unrein ist? Heißt das etwa, ein Kind zu bekommen ist gottloser, als wenn man tötet wie ein Soldat oder wie Vater das Schwein? Müßte nicht eigentlich auch Vater vor dem Kirchenportal knien? Es will mir nicht in den Kopf, warum Gott Frauen für schlecht hält, wenn sie Kinder bekommen, aber Männer nicht, wenn sie Würste machen – oder Leichen.
    Wenn ich jedoch an jenen Tag zurückdenke und wie erschrocken ich damals war, und wie wenig ich mitbekam, so habe ich keine Ahnung, woher ich überhaupt das Zeug zu einer guten Wehmutter hatte oder warum die Ausübung dieser Kunst eines Tages für mein Leben von so großer Bedeutung sein würde.

    »Ihr seht mir nicht wie eine Wehmutter aus«, fiel Bruder Gregory ihr ins Wort und pustete dabei auf die Seite, daß sie trocknete. Er hatte das Gesicht abgewandt, um seinen Ekel zu verbergen. Man darf zwar die Geburt, sagen wir, der Jungfrau Maria im Beisein von Engeln beschreiben, doch diese Frau wußte einfach nicht, was Diskretion war.
    »Ich bin keine mehr«, erwiderte Margaret und blickte ihn kalt an.
    »Das versteht sich von selbst; es ist eine Kunst, die nicht von Frauen in achtbaren Lebensumständen ausgeübt wird«, sagte Bruder Gregory und blickte sich dabei um.
    »Es sollte der achtbarste Beruf auf der ganzen Welt sein – Wehmütter sind Zeuge, wie Gott die Welt neu erschafft«, sagte Margaret so zähneknirschend, daß Bruder Gregory klar
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