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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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und Bruder Gregory wurde bereits von anstößigen Träumen über Würstchen und Kalbsfüße heimgesucht.
    Merkwürdig, wie die Stimmen widerhallten und sich im Mittelschiff verloren. Von weither perlte eine zarte Melodie herab, die jedoch vom Stimmengebrabbel aus einer der nahegelegenen Fensternischen zerrissen wurde. Ein Ritter war durchs Hauptportal eingetreten und hatte vergessen, seine Sporen abzunehmen. Um ihn herum schnatterte und flatterte es, während Sängerknaben in weißen Chorhemden ihren gewohnten Tribut forderten. Bruder Gregory, der die Schreibtische nicht aus dem Auge ließ, bemerkte eine junge, offenbar verheiratete Frau mit einer Magd im Gefolge, welche auf den ersten Schreibtisch zuging, doch der Klang ihrer Unterhaltung, obwohl sie ganz in der Nähe stattfand, entschwebte und verlor sich. Er beobachtete, wie sie der Reihe nach an jeden der Tische trat. Als sie beim zweiten anhielt, lachte der erste Schreiber hinter der vorgehaltenen Hand, während der zweite hochnäsig und naserümpfend auf sie herabsah, so als röche sie nach fauligem Fisch. Als sie sich abwandte, um zum nächsten Schreibtisch zu gehen, konnte Bruder Gregory ihr Profil sehen. Sie hatte trotzig das Kinn vorgereckt.
    »Eine halsstarrige Frau«, dachte Bruder Gregory und beobachtete, wie sie sich hinter einem alten Mann anstellte, der am dritten Tisch wartete. »Halsstarrigkeit steht einer Frau nicht wohl an.«
    Dann stand sie vor dem nächsten Schreiber, einem fetten Kleriker mit geröteten Hängebacken, der sie einfach auslachte. Darauf beugte er sich mit Verschwörermiene zu seinem Kollegen auf der anderen Seite und tuschelte hinter der vorgehaltenen Hand. Der wiederum tuschelte mit seinem Kollegen auf der nächsten Seite, und als sie schließlich vor dessen hohem Schreibtisch stand, deutete dieser in Bruder Gregorys Richtung. Jäh wandte sie sich um und starrte Bruder Gregory fast über die halbe Breite des Kirchenschiffs hinweg an, wie er da an seinem Pfeiler stand. Sie wirkte verwirrt und enttäuscht, doch dann kam sie auf ihn zu.
    Sie war doch nicht so alt, wie er zunächst angenommen hatte. Kaum ein, zwei Lenze über zwanzig, dachte er. Ein dunkelblauer Umhang, dessen Kapuze sie sich übergeworfen hatte, bedeckte ihr Kleid gänzlich und gab nichts als die Kanten vom weißen Gebende und der Rise frei. Sie machte einen wohlhabenden Eindruck: der Umhang war mit dichtem Pelz gefüttert und wurde von einer goldenen Filigranschließe zusammengehalten. Sie war zu Fuß durch den Frühlingsmatsch gekommen und trug noch die hölzernen Stelzenschuhe unter die bestickten Opanken aus Saffianleder gebunden. Sie war mittelgroß, doch sogar auf den hohen, geschnitzten Stelzenschuhen wirkte sie kleiner, als sie in Wirklichkeit war, denn sie war schlank und zartknochig. Bruder Gregory fand, sie sähe irgendwie verloren aus, doch einige Frauen scheinen immer einen leicht verwirrten Eindruck zu machen. Schließlich sind viele nicht in der Lage, sich in der Welt der Männer zurechtzufinden, und man sollte ihnen wirklich nicht gestatten, das Haus allein zu verlassen. Kann nicht weit her sein mit der Arbeit, die sie gemacht haben will, wenn alle Schreiber der Kathedrale das für einen Witz halten, überlegte Bruder Gregory bei sich. Aber immer noch besser wenig Arbeit als gar keine. Diese unangenehmen Träume hatten seine Meditationen gestört; vielleicht schlug er ja eine gute Mahlzeit aus dieser Frau heraus. Dann könnte er ungestört mit seiner Gottsuche weitermachen.
    Die Frau zögerte einen Augenblick, musterte Bruder Gregory von Kopf bis Fuß und sagte dann mit fester Stimme:
    »Ich brauche einen Schreiber, der schreiben kann.«
    »Das versteht sich von selbst«, erwiderte Bruder Gregory und betrachtete sie genauer. Reich, sehr reich, folgerte er. Und eigensinnig obendrein.
    »Ich meine schreiben, richtig schreiben.« Sie haben mir einen Streich gespielt, diese Schreiber, dachte Margaret. Der Mann da ist ja ein Bettler – einer von diesen diebischen Vaganten, die sich als Mönch verkleiden, um an Geld zu kommen. Wahrscheinlich kann er überhaupt nicht lesen und schreiben. Er wird sich eine ganze Weile furchtbar aufspielen, jedenfalls bis er sein Geld hat. Dann verschwindet er und läßt mich mit Seiten voll sinnlosen Gekritzels sitzen, und alle lachen sich tot über meine Dummheit. Und ich kann noch von Glück sagen, wenn er nicht auch noch die Silberlöffel mitgehen läßt. Diese gräßliche, gräßliche Stimme ! Warum behelligte sie nicht
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