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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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I
    Kalt ist die Liebe. Die Liebe ist kalt. Im Grab aber brennen wir und schmelzen zu Gold ... Lewadski wartete auf die Tränen. Die Tränen kamen nicht. Er wischte sich trotzdem übers Gesicht. Ekelhaft!
    Eben hatte er den Hörer mit starrem Blick auf die Gabel gelegt. Was sonst, wenn nicht Ungeduld, hatte er im Atem seines Hausarztes gehört? Ungeduld und das Wimmeln von Gedanken, die mit ihm, Lewadski, nichts zu tun hatten: Backpulver nicht vergessen ... Mottenschutz, Möbelpolitur, was noch ... Er roch seine eigene Lästigkeit durch den Hörer. Einatmen, Ausatmen. Leg auf, Alter, leg auf ...
    Lewadski ging ins Bad und übergab sich. Tränen fielen winselnd über ihn her. Winselnd übergab sich Lewadski zum ersten Mal seit langer Zeit. Beim letzten Mal hatte er noch Knickerbocker getragen. Wie hieß das Mädchen? Maria? Sophia?Ihre Hand ließ sich die Kleine von einem schnurrbärtigen Mann küssen. Vor ihr ein Stück Torte. Da packte den Schüler Lewadski die Eifersucht an der Gurgel. Vor dem Fenster des Cafés blieb er stehen, verneigte sich und kippte den Inhalt seines Magens auf den Bürgersteig. Seine Brust betastend, richtete er sich langsam auf. Der Blick des Mädchens durch ihn hindurch, ihre geweiteten Augen, voller Wonne, die weder ihm noch dem Schnurrbärtigen galt, sondern dem Stück Schokoladentorte allein ...
    Warum habe ich mir damals an die Brust gefasst? Lewadski hielt sich im Spiegel an einem Wasserglas fest. Wäre mir mein Herz beim Kotzen herausgefallen, hätten mir Arme und Beine versagt. Ich hätte bemerkt, dass etwas fehlt!
    Lewadski spülte sich den Mund aus, nahm den Duschkopf und richtete ihn auf sein Gebiss, das er mit in die Badewanne gespuckt hatte und das nun im Ausgespienen an ein gekentertes Boot erinnerte. Der Wasserstrahl schob die sündhaft teure und höchst unpraktische Druckknopfprothese ruckartig Richtung Abfluss. Er beugte sich nach vorne und nahm sie skeptisch in die Hand – ein totes Wesen, von dem noch ein letzter Streich zu erwarten war.
    Nein, er wollte diesem Mädchen nicht wieder begegnen. Wenn sie noch lebte, würde sie entweder blind oder dement oder an den Rollstuhl gefesselt sein. Wie hieß sie denn? Maria? Aida? Tamara? Ob sie nach Lewadskis Show vor dem Fenster ihre Torte aufgegessen hatte? Egal.
    Eine Tablette fiel ins Wasserglas. Nach kurzer Überlegung fing sie an zu zischen und zu kreiseln, eine betrunkene Biene. Behutsam ließ Lewadski seine Prothese der Tablette ins Glas hinterherfallen. Plommm ... Seit er sich ein künstliches Gebiss angeschafft hatte, beruhigte ihn dieses Geräusch. Vielleicht hing es damit zusammen, dass es in der Regel denAuftritt des Sandmanns begleitete. Daher kam wohl seine magische Süße. Plommm ... Und schon fielen Lewadski die Augen zu. Plommm ... Und schon schwirrte er auf den schillernden Flügeldecken eines Rosenkäfers in den Sonnenuntergang. Was ist süßer als deine Schokoladentorte, Mädchen? Nur der Schlaf. Und was ist süßer als der Schlaf? Nur der Tod.
    Auf dem kurzen und mühevollen Weg ins Wohnzimmer sah Lewadski mit Empörung sein Telefon grünen, als wäre nichts passiert, als wäre ihm, Luka Lewadski, Professor emeritus der Zoologie, nicht gerade das Todesurteil in den Hörer gesprochen worden. »Wir müssen über Ihre Werte reden – im Krankenhaus, sofort.« Lewadski hatte verstanden. Es gab nichts mehr zu reden. Worüber auch? Waren die Werte in Ordnung, rief man nicht an einem Sonntag an, um die Mittagszeit, wenn greise Patienten womöglich am tiefsten schlafen. Man rief auch nicht an, wenn die Werte schlecht waren. Hatte man eine gute Kinderstube, klopfte man als Arzt mit seinem grünen Schnabel persönlich an die Tür, um die Todesnachricht zu überbringen. Das Blut hämmerte immer noch in seinen Schläfen. Herein!, wird er dem Arzt am anderen Ende der Leitung gesagt haben. Oder hatte er es bloß gedacht? Immer häufiger ertappte Lewadski sich dabei, dass er Denken, Sprechen und Schweigen kaum mehr unterschied und dass ihm dies immer unwichtiger wurde.
    Mit zwei scharrenden Schritten war die Mitte des Wohnzimmers erreicht. Lewadskis Bücher saßen steif auf den Ästen und Zweigen einer beachtlichen Bibliothek. Im staubigen Sonnenlicht schienen sie auf ein kleines Spektakel zu warten; die Bücher hielten buchstäblich den Atem an. Nicht heute, dachte Lewadski. An seiner Nasenspitze blitzte ein regenbogenfarbener Tropfen auf, bevor er auf dem Parkett zerplatzte.Noch ein Scharren und schon saß Lewadski in
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