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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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großer, dunkler Locken, die nur von Vater stammen konnten.
    »Ich bin erst am Anfang meiner heutigen Besuche«, sagte der Priester und ging in die Hocke, damit er von Angesicht zu Angesicht mit David reden konnte. »Zunächst einmal habe ich die alte Oma Agnes besucht, die es in den Gelenken hat, und ihr die Hostie gebracht, weil sie das Bett hüten muß. Danach muß ich die Gevatterin Alice besuchen, denn sie möchte ihren Kochtopf gesegnet haben. Sie behauptet, es sitzt ein Dämon darin, der macht, daß ihr das ganze Essen anbrennt, und ihr Mann droht, sie zu verlassen, wenn der Dämon noch mehr Mahlzeiten verdirbt. Aber im Augenblick, kleiner Mann, habe ich geschäftlich mit deinem Vater zu tun.«
    »Mit Vater?« fragte ich.
    Er stand da und musterte mich sehr eingehend, so als wolle er sich jeden Gesichtszug einprägen. Das passierte mir öfter, und gewöhnlich lief es darauf hinaus, daß die Leute kopfschüttelnd sagten: »Du siehst genauso aus wie deine Mutter«, so als ob daran irgend etwas auszusetzen wäre. »Zu blaß«, sagten sie dann wohl, »und dann diese Augen – nußbraun bringt kein Glück. Und in diesem Licht sehen sie gelb wie Katzenaugen aus. Ein Jammer, daß sie nicht blau sind.« Ich wurde unter dem prüfenden Blick des Priesters immer verlegener und hätte gern ein besseres Kleid angehabt. Wenn es nicht aus Mutters geschneidert und am Saum dreimal eingeschlagen gewesen wäre, damit es mitwachsen konnte – oder wenn es blau gewesen wäre statt so gewöhnlich rostbraun, vielleicht würde er mich dann leiden mögen wie David. Statt dessen richtete er immer noch seinen scharfen, harten Blick auf mich und sagte zu mir:
    »Ja, ich habe geschäftlich mit deinem Vater zu tun, denn es wird allerhöchste Zeit, daß er in den Schoß der Mutter Kirche zurückkehrt. Und du, kleines Mädchen, hüte dich, daß du aus lauter Eitelkeit nicht in seine Fußtapfen trittst. Ein wahrer Christ vernachlässigt den Leib zugunsten des geistigen Lebens: zuviel Waschen und äußerliche Zier sind ein Zeichen, daß unchristliche Gedanken am Werke sind, und führen ins Verderben.«
    Er schien sich für dieses Thema zu erwärmen, denn er fuhr fort:
    »Ja, eben dieses übermäßige Baden schwächte unseren verstorbenen, unseligen König Edward den Zweiten (Gott hab ihn selig) –« und hier bekreuzigte sich Vater Ambrose » – so sehr, daß er in der Schlacht unterlag und von seiner eigenen Gemahlin abgesetzt wurde. Dergestalt führte das Waschen zu seinem Tode, und du schlage dieses von Gott gesetzte Beispiel nicht in den Wind.« Hochwürden Ambrose wirkte sehr zufrieden mit sich, wie immer, wenn er eine Predigt gehalten hatte und diese als besonders gelungen betrachtete. Ich musterte ihn eingehend: Die grauen Haare an seinen Schläfen waren schweißverklebt; ich sah, wie etwas Kleines, Dunkles ihm aus dem Kragen den Hals hochkrabbelte. Doch vor allem seine Fingernägel ließen erkennen, daß er ein sehr heiliger Mann sein mußte. Aber das war ja das Problem: hieß das etwa, daß der alte William, der Pflüger, nach einem Tag Dungaufladen sogar noch heiliger war? Gott sei Dank hielt ich den Mund. Mit derlei Fragen habe ich mir mein Leben lang viel Ärger eingehandelt.
    »Kinder, ist euer Vater im Haus? Ich habe ihn heute noch nicht bei der Arbeit gesehen, er soll wohl krank sein.«
    »Ja, er ist drinnen und krank«, erzählte ich dem Priester.
    »Krank vom Ale, Vater«, zwitscherte David, der manchmal ein richtiger alter, kleiner Pharisäer sein konnte.
    »Ach, ihr armen Kinder! Das dachte ich mir schon. Man kann diesen infernalischen Beerdigungsbesäufnissen einfach keinen Einhalt gebieten. Ein Mann, der so lange gesungen, den Dudelsack gespielt und soviel getrunken hat wie er, der dürfte zweifellos – äh – ›krank‹ sein.«
    Der Priester trat ein ohne anzuklopfen, und wir hörten Stimmen, das heißt eine Stimme, der im verdunkelten Haus Stöhnen antwortete. Als die Stimmen lauter wurden, konnten wir hören, was gesagt wurde.
    »Kein Mann scheißt in seinen Hut und setzt ihn dann auf.«
    »Du hast sie schon eine Zeitlang fleischlich gekannt, und nun mußt du entweder heiraten oder vor Gericht.«
    »Eine Buße zahlen? Ich habe kein Geld, und das wißt Ihr.«
    »Hast du die große Mitgift, die deine Frau mit in die Ehe gebracht hat, schon vergeudet?«
    »Die habe ich angelegt, Vater.«
    »Angelegt? Fürwahr, angelegt in Sünde! Schämst du dich denn gar nicht, daß ihre Kinder draußen im Schmutz sitzen und müßig
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