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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Prolog
    I m Jahr des Herrn 1355, drei Tage nach Epiphanias, gab Gott mir ein, daß ich ein Buch schreiben müßte.
    »Ich bin doch nur eine Frau«, sagte ich zu meiner inneren Stimme . »Ich kann weder lesen noch schreiben, und Latein kann ich auch nicht. Wie soll ich wohl ein Buch schreiben und was hineinschreiben, da ich doch nie große Werke vollbracht habe?«
    Die Stimme antwortete:
    »Schreib hinein, was du gesehen hast. Es macht nichts, daß du eine Frau bist und dich mit Alltagsdingen abgibst. Manchmal können geringe Werke von großen Ideen künden. Und was das Schreiben angeht, so mach es wie die anderen: such dir jemand, der alles für dich aufschreibt.«
    »Stimme« , sagte ich, »woher weiß ich, daß du von Gott kommst und nicht vom Teufel, der mich zu Narreteien verleiten will?«
    Margaret«, gab die Stimme zurück, »ist das etwa keine gute Idee? Wie sollte Gott wohl schlechte eingeben.«
    Mir kam die Idee auch gut vor. Je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel sie mir. Ich bekomme gern Bücher vorgelesen, dachte ich, aber nie ist ein Buch über Frauen darunter. Manchmal liest mein Mann dem Haushalt aus einem Buch über Reisen vor, das von den Wunderdingen ferner Gegenden handelt. Manchmal lassen wir uns von einem Priester zur Erbauung der Seele erhabene Gedanken und treffliche Meditationen vortragen. Aus einem Buch wie das, wovon die Stimme gesprochen hat, würde ich gern vorgelesen bekommen.
    Ich erzählte meinem Mann, daß eine innere Stimme , die ganz entschieden von Gott kam, mir gesagt hätte, ich solle ein Buch schreiben. Er gab mir zur Antwort:
    »Wieder einmal eine Stimme, äh? Naja, wozu ist mein ganzes Geld nutze, wenn ich damit nicht mein süßes Püppchen verwöhnen kann? Wenn du dir ein Buch wünschst, dann sollst du es meinetwegen haben. Aber ich sage dir gleich, es wird nicht leicht sein, einen Priester aufzutreiben, der es für dich schreibt.«
    Mein Mann kennt sich sehr gut aus in der Welt, denn er ist schon viel länger auf ihr als ich. Was die Schwierigkeiten anging, so hatte er sich nicht getäuscht. Der erste Priester, den ich fragte, wurde zornig und weigerte sich, selbst für Geld eine solche Arbeit anzunehmen. Er blickte mich durchdringend an und sagte:
    »Wer hat Euch das eingegeben, der Teufel etwa? Der flößt Frauen oftmals unziemliche Gelüste ein. Es gibt für Frauen keine Veranlassung, überhaupt etwas zu schreiben. Sie haben keinen Anteil an großen Werken, und zu erhabenen Gedanken sind sie auch nicht fähig. Und das sind die beiden einzigen Gründe, aus denen es sich ziemt, Bücher zu schreiben. Alles übrige ist nichts als Eitelkeit und will andere zur Sünde verleiten. Geht heim und dient Eurem Eheherrn und dankt Gott, daß Er Euch demütig gemacht hat.«
    Ich war sehr entmutigt.
    »Stimme« , sagte ich, »du hast mir eine Strafpredigt eingetragen, und nun bin ich traurig.«
    Die Stimme sagte: »Nicht locker lassen, Margaret. Ich hätte nicht gedacht, daß du so leicht aufgibst.«
    »Dieses Mal ist es wirklich zuviel für mich. Dauernd erzählen mir alle, was nicht geht, und vielleicht haben sie ausnahmsweise sogar einmal recht. Kein Mann will aufschreiben, was eine Frau zu sagen hat.«
    »Du hast nur noch nicht den Richtigen gefunden«, sagte die Stimme . »Halt weiter Ausschau.«

Kapitel 1
    I m Westende des großen, normannischen Mittelschiffes der St. Paul's Cathedral in der City of London lungerte eine hochgewachsene, knochige, in ein unauffälliges, fadenscheiniges, altes, graues Gewand gehüllte Gestalt in der Nähe eines Pfeilers herum und beobachtete aufmerksam das Gewimmel von Kaufleuten, frommen Damen, Dienstboten und Klerikern, die hier ihren Geschäften nachgingen. St. Paul's eignete sich gut für die Arbeitssuche: an einem Pfeiler standen die arbeitslosen Dienstboten und warteten auf Angebote, während Priester am Nordportal das gleiche taten, nur eben diskreter. Dort hefteten sie säuberlich geschriebene Zettelchen an, die kundtaten, daß sie für jede freie Stelle zur Verfügung stünden. Hier, am Westende, saßen zwölf Schreiber der Kathedrale an Schreibtischen und schrieben Briefe für jedermann oder erstellten Urkunden; und genau hier hatte Bruder Gregory die letzten Tage auf der Lauer gelegen und darauf gewartet, daß vom Tisch der Reichen unbeachtet ein Brocken zum Kopieren für ihn herabfiele. Vor zwei Tagen hatte er für eine alte Frau einen Brief an ihren Sohn in Calais geschrieben, doch seither hatte sich nichts mehr getan,
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