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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Steinbrücke trennt.
    Damals war Ashbury das geringste der Dörfer, die zur großen Abtei von St. Matthew's gehörten, aber es war an der Landstraße gelegen und nahm dadurch wohl eine herausragende Stellung ein. Von unserer Haustür aus konnte man hinter den Bäumen den Quader des normannischen Kirchturms erblicken, und die Biegung der Landstraße vor unserem Haus führte geradewegs zum Kirchhof hin. Dadurch gewann unser Haus irgendwie an Bedeutung, auch wenn es nicht groß war. Wir waren aber auch durch Vater anders. Er war freigeboren und bewirtschaftete eigenes Land. Dazu war er noch der beste Bogenschütze auf dem Krongut und auch der beste Dudelsackpfeifer und der beste Trinker von Ashbury, und das will auf dem Land immer etwas heißen.
    Der Tag, von dem hier die Rede ist, war also jener Tag, an dem sich alles änderte. Danach war nichts wieder, wie es gewesen war, selbst nicht zwischen David und mir – obwohl mir das alles erst später aufging. Es war warm und sommerlich, und David und ich hockten vor unserer Tür im Staub der Straße.
    Zwei Türen weiter saß die Gevatterin Sarah mit ihren Klatschbasen auch in der Sonne; sie schwatzten und kämmten sich gegenseitig abwechselnd mit einem feinzinkigen Kamm das Haar. David und ich spielten ein Spiel: Wir zählten nach, wer sich am schnellsten die meisten Flöhe abgesucht hatte. Ich hatte mir den Rock hochgeschoben, die Schienbeine über den nackten Füßen entblößt, wo ich drei prächtige Tierchen fand, die gemächlich an meinem Bein hochkrabbelten. Blitzschnell fing ich eines, doch die beiden anderen hüpften im Staub davon.
    »Du bist viel zu langsam, Margaret; du hast zwei entwischen lassen«, sagte David in dem überheblichen Ton, den er manchmal an sich hatte, und knackte die beiden, die er zwischen den Fingern hielt. Keiner von uns beiden blickte dabei auf, und so merkten wir auch nicht, wie sich die Gestalt unseres Pfarrers Hochwürden Ambrose auf der staubigen Landstraße zu unserem Haus hinmühte.
    »Das kommt, weil ich so starkes Blut habe. Das macht meine Flöhe schneller als deine«, antwortete ich hochnäsig.
    »Ja aber, das weiß man doch nur, wenn es erst bewiesen ist«, antwortete David und machte sich daran, mit seinem Zeh einen Kreis in den Staub zu ziehen.
    »Da«, sagte er. »Jetzt setzt du zwei von deinen Flöhen in die Mitte und ich zwei von meinen, und dann sehen wir ja, welche am schnellsten weghüpfen.«
    Gesagt, getan, und seine Flöhe sprangen mit einem einzigen großen Satz aus dem Kreis, während meine jämmerlich im Staub davonkrabbelten.
    »Na also!« frohlockte er, »da hast du's.« Manchmal kann einen selbst ein Bruder in den Harnisch bringen. Besonders dann, wenn er jünger ist und ewig beweisen will, daß er alles besser kann. Ich war so erbost, daß ich nicht einmal hörte, wie die Klatschbasen Vater Ambrose begrüßten.
    »Also, wenn meine nicht schnell sein können, dann will ich gar keine Flöhe mehr haben«, sagte ich. David bohrte seine Zehen in den Staub. Er hatte keine Bruch und keine Schuhe, nur einen Kittel mit Gürtel. Er besaß kein Unterhemd, und ich noch viel weniger. Vielleicht hatte jemand im Dorf eines, aber gesehen hatten wir dergleichen noch nie.
    »Ha! Das schaffst du nicht. Jeder hat Flöhe!« freute er sich hämisch.
    »Ich wohl, ich wasche sie ab!«
    »Ätsch, und dann springen sie dich gleich wieder an«, meinte er gar nicht so dumm.
    »Und ich wasche sie einfach wieder ab!«
    »Du Dummerchen, dann müßtest du ja ewig baden. Wie oft meinst du wohl, daß du das machen mußt?«
    »Ach, ich – ich mache das jede Woche! Jeden Tag, wenn es sein muß!« rief ich, ohne nachzudenken.
    »Dann wäschst du dir die Haut ab und gehst tot«, sagte er. »Das weiß doch jeder.«
    Über unseren Kreis fiel der Schatten von Vater Ambrose, der uns überrascht hatte. Ich blickte hoch und merkte, daß er uns mit seinen scharfen, blauen Augen anstarrte. Sein runzliges Gesicht mit den Bartstoppeln sah mißbilligend und argwöhnisch aus.
    »Sieh dich vor, kleines Mädchen, du hast ein loses Mundwerk, das sind nichts als Eitelkeiten«, dröhnte seine tiefe Stimme.
    »Guten Tag auch, Hochwürden Ambrose!« David richtete die wunderbaren blauen Augen auf den Priester. »Habt Ihr heute viele Besuche zu machen?«
    »Ja, gewiß David«, sagte er und seine Miene heiterte sich beim Anblick von Davids klugem, hübschen Gesicht auf. David hatte das schmale, ovale Antlitz unserer Mutter, ihre schneeweiße Haut und einen Schopf
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