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Die Stimme

Titel: Die Stimme
Autoren: Judith Merkle-Riley
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massenhaft gutes Stroh. Rings um das Feuer in der Mitte lagen flache Steine, darüber hing der Kochtopf. Eine runde, flache Pfanne für Pfannkuchen und ein paar kleinere Töpfe standen daneben. Der Rauch stieg zum geschwärzten Dachstroh hoch, wo er die Schinken und Speckseiten räucherte, welche von den Sparren herabhingen, ehe er durch die Rauchluke abzog.
    Wir schliefen alle zusammen in einem großen Bett vorn im Haus, der Kleine in seiner Wiege, damit wir ihn nicht plattdrückten. Doch selbst wenn die großen Jungen sich nicht hin- und herwarfen, fand man so leicht keinen Schlaf, denn das neue Kind, auf den Namen Martin getauft, kränkelte nach dem vielversprechenden Anfang. Das kalte Wetter machte ihn gereizt und weinerlich, des Nachts rollte er mit dem Kopf hin und her, und Stillen half auch nichts. Seine Nase lief Tag und Nacht. Manchmal lagen David und ich stundenlang wach und horchten auf das Kindergebrüll. Will und Rob stopften sich Wolle in die Ohren. Nichts konnte jedoch den Knecht stören, denn der war nicht nur zahnlos, sondern auch taub. Aber Mutters Gesicht wurde immer hagerer, und unter ihren Augen bildeten sich dunkle Schatten. Manchmal nickte sie am hellichten Tag beim Essenrühren ein. Vater wurde von Tag zu Tag gereizter, denn wie er sagte:
    »Jemand, der bei Tage so hart arbeitet wie ich, verdient nachts ein bißchen Ruhe.«
    In jener Nacht schlief Mutter so tief, daß sie das erste Geplärre des Kleinen nicht hörte. Dann wurde das schniefende Gegreine zu einem dünnen, auf- und absteigenden Gewimmer und weckte David neben mir aus dem Schlaf. Ich war schon wach.
    »Hol dich der Teufel, du kleiner Bastard«, brummte eine schlaftrunkene Stimme unter der Decke an Vaters Platz. »Halt dein kleines Maul.«
    »JiiiiIIIIIiiiiiIIIIIiii!« ertönte es aus der Wiege.
    »Anne, Anne.« Er puffte Mutter an die Schulter. »Stell was mit deinem Kind da an.« Mutter stöhnte und drehte sich um, aber sie wurde nicht wach.
    »Sei still, sei still, du kleines Ungeheuer«, knurrte Vater, stand auf und redete auf die Wiege ein. »Dir werd ich zeigen, daß man einen arbeitenden Menschen nicht aufweckt!« Und er hob das gewindelte Kind hoch und schüttelte es kräftig durch. Das Gegreine hörte auf.
    »Da, dir hab ich's gezeigt. Jetzt hast du wohl etwas mehr Achtung, was?« Er legte Martin wieder hin und stieg ins Bett zurück, wo er sich die Bettdecke über die Ohren zog.
    Die Stille vermochte, was der Lärm nicht geschafft hatte: Mutter Anne wachte auf. Schlaftrunken fühlte sie im Dunkeln nach der Wiege. Sie merkte, daß der Säugling anders lag, tastete noch einmal und machte die Augen auf, damit sie ihn mit beiden Händen hochheben konnte. Sein Kopf rollte unnatürlich zur Seite. Sie blickte ihn genauer an: vor den weißen Lippen des Kindes stand dünner, blutiger Schaum. Sie berührte ihn mit den Fingern und befühlte noch einmal seinen Hals.
    »Heilige Jungfrau Maria und all ihr Heiligen!« Sie stieß einen Schrei aus. »Was hast du getan? Was hast du getan?«
    »Gott steh mir bei, Weib, halt den Mund! Zuerst macht der eine Krach, dann der andere. Ein Mann braucht seinen Schlaf!«
    »Hugh, der Kleine ist tot!«
    »Nicht tot, er schläft endlich, und du laß mich in Ruhe.«
    »Ich sag doch, er ist tot, er ist tot, und du bist schuld!« zischte sie. Das machte Vater richtig wach. In der Dunkelheit glänzten Davids Augen riesig. Wir lagen totenstill da aus Furcht, Vater würde uns bemerken und mit uns ebenso verfahren. Mittlerweile war er hellwach, und nun dämmerte ihm auch endlich, was geschehen war. Mutter traten die Augen vor Entsetzen aus dem Kopf, während sie den kalten, kleinen Körper anblickte, der sich inzwischen grau verfärbt hatte. Dann warf sie Vater einen Blick so voller Abneigung und Abscheu zu, wie ich ihn meiner Lebtag nicht wieder gesehen habe.
    »Da sieh, ja, sieh nur, was du deinem eigenen Sohn angetan hast!« In diesem Augenblick geschah etwas Merkwürdiges. Vaters Gesicht gab nach, es fiel einfach in sich zusammen, und er sagte mit weinerlicher Stimme:
    »Aber das habe ich nicht gewollt, ich habe es wirklich nicht gewollt!«
    Stumm streckte ihm Mutter das Kind mit dem baumelnden Kopf hin.
    »Ich schwöre bei allen Heiligen, daß ich das wirklich nicht gewollt habe. Versteh doch, Anne, ich habe es nicht gewollt.« Kläglich und kleinlaut fummelte und zupfte er an der Bettdecke herum.
    Von diesem Augenblick an änderte sich aber auch alles bei uns zu Haus, denn nun führte Mutter das
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