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Leichendieb

Leichendieb

Titel: Leichendieb
Autoren: Patrícia Melo
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1
    Wir suhlen uns in der Hitze.
    Auf der Galerie höre ich Schritte, aber ich bin zu schlapp, um zu schreien.
    Sie flüstern, stolpern, machen irgendwas kaputt, lachen.
    Die Fahrradwerkstatt unten hat geschlossen. Die Kinder im Viertel, eine ganze Bande, machen sich einen Spaß daraus, die Nachbarn auszuspionieren. Steigen auf Dächer, klettern auf Bäume, zwängen sich in Luken. In der Ferne höre ich Seifenkisten über den Asphalt rattern. Sie pfeifen.
    Diese blöden Möchtegernindios, sagt Sulamita; steht auf, nackt, und geht ins Bad.
    Die Alte unten schreit. Die Indiofrau. Gestern noch hat sie mir erzählt, dass sie aus den Fasern der Acuri-Palme etwas flechten könne.
    Wenn Sulamita bei mir schläft, regt sie sich auf. Behauptet, ich müsse mir eine Arbeit besorgen, hier wegziehen, mir ein anderes Viertel suchen. Diese Scheißindios, sagt sie wieder und wieder.
    Mir gefällt es hier. Und in Corumbá. Auch an die Kinder habe ich mich schon gewöhnt, die in meiner Abwesenheit oft in meinen Sachen wühlen. Und ich mag auch die alte Indiofrau und muss an sie denken, wenn ich angeln gehe.
    Ich höre, wie Sulamita im Bad einen Eimer Wasser volllaufen lässt. Tu es nicht, sage ich, vergebens. Auf Zehenspitzengeht sie zur Tür und überrascht die Kinder, die aufgereiht vor dem Fenster hocken, von hinten.
    Ich höre, wie sie johlend und lachend davonlaufen.
    Erst jetzt öffne ich die Augen.
    Es ist Sonntag.
2
    Der Reporter erklärt: Dreiunddreißigtausend junge Menschen werden in den kommenden vier Jahren ermordet werden. Ich sehe im Geist einen Polizisten vor mir, der das Feuer auf sie eröffnet. Schwarze, hinterrücks erschossen, stelle ich mir vor. Arme Leute. Sehe die an der Wand klebende Hirnmasse am Ort des Gemetzels. Und Wundränder. Der Reporter sagt: Den Statistiken zufolge werden die Toten Schwarze und Dunkelhäutige sein. Irgendjemand muss den Gehweg sauber machen, überlege ich.
    Ich liebe es, mich nach einer kalten Dusche und einem starken Kaffee in meinen schrottreifen roten Pick-up zu setzen, das Radio anzuschalten und mich von dem Sprecher über den weltweiten Verfall der Börsenkurse berieseln zu lassen, über Massenmorde, Erdbeben, Angriffe der Taliban, Entführungen, Überschwemmungen, Morde, Epidemien, Vergewaltigungen und kilometerlange Staus. Das beruhigt mich, ist Teil meiner Genesung. Ich höre das alles mit dem guten Gefühl, nicht Zielscheibe von irgendetwas zu sein, ich falle aus den Statistiken heraus, bin nicht reich, bin nicht schwarz, bin kein Moslem, das sind meine Gedanken, ich bin gerettet, geschützt in meinemWagen, während ich weiter nach Remédios fahre und in die Estrada Velha, die alte Landstraße, einbiege, immer bei offenem Fenster, um den Geruch der Natur zu spüren, der mir in die Nase steigt.
    Manchmal schläft Sulamita bei mir. An den Tagen aktiviere ich mein inneres Antivirusprogramm und höre mir ihre Geschichten über das an, was auf der Polizeiwache passiert, in der sie als Verwaltungsangestellte arbeitet.
    Beschlagnahmungen von Drogen, Haftbefehle, Razzien, Korruption und Betrug. Die Leute versauen sich nämlich reihenweise ihr Leben. Heute hat sie mir, während wir frische Brötchen aßen, von einer Frau erzählt, die mit einem Messer im Ohr auf die Wache kam.
    So hatte dieser Sonntag für mich begonnen. So weit, so gut, sagte ich zu mir selbst. Zumindest habe ich kein Messer im Ohr stecken. Uns geht es gut. Alles unter Kontrolle, Over.
    Ich parkte auf der ersten Brücke, stieg hinunter zur Kanalmündung, lauschte eine Weile lang dem Quaken der Frösche und überlegte, wo ich angeln wollte.
    Ich musste an den Tag denken, an dem Sulamita und ich mit dem Fahrrad zur Grotte gefahren waren. Eine schwachsinnige Idee, sagte Sulamita. Der Weg war aufgeweicht von den Überschwemmungen, der Schlamm reichte uns bis zu den Knöcheln. Sulamita schimpfte den ganzen Weg über, während sie das Rad schob. Dann badeten wir im eiskalten Wasser der Grotte.
    Von der Brücke aus war so gut wie kein Tier zu sehen, nicht mal ein Wasserschwein oder ein Alligator, wegen der Fazendas, der Landgüter, in der Nachbarschaft. Einige Tukane und Krähen flogen über das flache Unterholz und suchten in denWasserlachen, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte, nach Nahrung.
    Es war so heiß, dass die Viehtransporter der Gegend sich nicht auf die Straße trauten. Mir lief der Schweiß das Gesicht herab.
    Ich ging zurück zum Wagen und fuhr in den Wald, mitten zwischen den Caranday-Palmen hindurch.
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