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030 - Bei den drei Eichen

030 - Bei den drei Eichen

Titel: 030 - Bei den drei Eichen
Autoren: Edgar Wallace
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    »Mord ist weder eine Kunst noch eine Wissenschaft; Mord ist Zufall!« behauptete Socrates Smith. Lex Smith, der für seinen berühmten Bruder große Bewunderung empfand, mußte grinsen. Ein größerer Gegensatz zwischen zwei Männern war kaum vorstellbar. ›Soc‹ Smith, nahe den Fünfzigern, war von langer, hagerer Gestalt und hielt sich ein wenig gebeugt. Sein zerfurchtes Gesicht schien aus einem Stück Teakholz geschnitzt zu sein; über den schmalen Lippen des energischen Mundes saß ein eisgraues Bärtchen.
    Lex war fünfundzwanzig Jahre jünger und fünf Zentimeter kleiner, aber seine Haltung war so aufrecht, daß die meisten Menschen die beiden Brüder für gleich groß hielten; und hätte jemand aus dem Stegreif sagen sollen, wer von beiden der größere sei, würde er ohne Zögern den gutaussehenden Lex genannt haben.
    »Oh, Onkel Soc«, sagte Lex ehrerbietig, »was für ein Aphorismus!«
    Der Ältere warf ihm einen scharfen Bück zu: »Wenn du das als einen Aphorismus bezeichnest, bist du dumm! Reich mir die Marmelade.«
    Sie saßen beim Frühstück in ihrem geräumigen Eßzimmer, dessen Fenster auf den Regent's Park hinausgingen.
    Die Brüder bewohnten zwei Stockwerke eines Hauses, das Socrates in jungen Jahren gekauft hatte. Damals trug er sich noch mit dem Gedanken, eines Tages zu heiraten. Aber er hatte einfach keine Zeit gehabt, sich eine Frau zu suchen, und so verausgabte er das, was Lex seinen »mütterlichen Instinkt« nannte, in der Betreuung seines jungen Bruders.
    Das Leben von Socrates war immer so mit rastloser Arbeit ausgefüllt gewesen, daß ihm keine Zeit für romantische Gefühle blieb; und den listigen Bemühungen seiner Tante, ihn in eine Ehe zu hetzen, widerstand er durch den glücklichen Zufall, daß damals der Tollemarsh-Mord jeden seiner Gedanken in Anspruch nahm. Er war heute noch dankbar dafür, denn die damals in Aussicht genommene Dame war inzwischen bereits dreimal als Hauptfigur in Scheidungsprozessen hervorgetreten, und man konnte, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, sagen, sie war stadtbekannt!
    Soc, dessen Ruf als Kriminalist weit über die Grenzen Englands bekannt war, hatte seine Laufbahn als einfacher Polizist begonnen. Wahrscheinlich gab es weder vorher noch nachher einen Polizeiwachtmeister, der Tag und Nacht seine Runden ging, aber seine Mußestunden in einem der exklusivsten Klubs von London verbringen konnte.
    Sein Privatvermögen sicherte ihm ein beträchtliches Einkommen; dennoch machte er willig die harte Lehrzeit als einfacher Polizist durch, da zu jener Zeit einzig und allein der Dienst in der uniformierten Abteilung den Zutritt zu den Archiven der Kriminalpolizei ermöglichte.
    Den Ursachen und Erscheinungsformen des Verbrechens, den Maßnahmen zu seiner Verhütung und Bekämpfung, kurz, dem Studium der Kriminalistik nachzugehen, war Socrates Smiths große Passion, für die er mit Freuden jede Unbequemlichkeit auf sich genommen hatte.
    Vier Jahre lang hatte er abwechselnd Büro- und Außendienst getan, wurde erstaunlich schnell zum Sergeanten befördert und kam dann um seine Entlassung ein, um sich dem Studium der ausländischen Polizeimethoden und dem noch fesselnderen der Anthropologie zu widmen.
    Scotland Yard ist eine sehr argwöhnische Behörde, die jedem Außenstehenden mißtraut und zu begeisterten Amateuren eine eisige Distanz wahrt. Soc indessen hatte, dank seiner hervorragenden Fähigkeiten, den Yard mit den besten Wünschen der Direktion verlassen. Auch nach seinem Ausscheiden wurde er stets bei besonders schwierigen Fällen zur Mitarbeit herangezogen, denn Soc war nicht nur eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Spurenermittlung und der Fingerabdrücke, sondern er war auch der erste, der die Spektral- und Guajakanalysen bei der Entdeckung von Blut auf Kleidungsstücken weiter entwickelt hatte.
    »Welchen Zug wollen wir nehmen?« erkundigte sich Lex.
    »Zwei Uhr vom Waterloo-Bahnhof«, antwortete der Ältere.
    »Werde ich mich sehr langweilen müssen?«
    »Ja«, versetzte Soc, ein lustiges Zwinkern um die Augen, »aber das wird dir gut tun. Langeweile ist die einzige Zucht, der die Jugend nicht entwischen kann.«
    Lex lachte. »Du strömst heute morgen förmlich über von weisen Worten. Prophetische Gabe erleuchtete jene, die dich Socrates tauften«, deklamierte er feierlich.
    Socrates Smith hatte schon lange seinen Eltern den ungewöhnlichen Vornamen verziehen. Sein Vater war ein reicher Eisenfabrikant gewesen, der für die
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