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Die Stadt der Verlorenen

Die Stadt der Verlorenen

Titel: Die Stadt der Verlorenen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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mit der Angst zu tun.
Mitglieder der Kriegerkaste gaben sich nie mit dem einfachen
Volk ab und taten sie es doch, so bedeutete das fast immer Ärger;
und nur zu oft den Tod.
»Trotzdem will ich hören, was er zu sagen hat«, fuhr der
Krieger fort, nachdem er eine Zeit lang nachdenklich auf Mike
herabgeblickt hatte. »Mach seine Fesseln los.«
»Aber Herr!«, protestierte der Wächter. »Davon rate ich Euch
dringend ab! Der Bursche ist nicht ganz klar im Kopf! Er
behauptet, mit diesem pelzigen Ungeheuer gesprochen zu haben,
und jetzt redet er mit Menschen, die gar nicht da sind und von
denen noch nie jemand gehört hat! Singh und Trautman! Was
das schon für Namen sind!«
»Das sind die Namen meiner ...«, begann Mike, sprach aber
nicht weiter.
»Ja?«, fragte der Krieger, als Mike auch nach einer
ganzen
Weile keine Anstalten machte weiterzureden.
»Ich ... ich weiß es nicht, Herr«, murmelte Mike. Ein eisiger
Schauer lief über seinen Rücken. Seine Worte entsprachen der
Wahrheit. Gerade noch hatte er gewusst, zu wem diese Namen
gehörten, und plötzlich war es, als wäre ein gewaltiger
unsichtbarer Rechen durch seinen Kopf gefahren und hätte alles
weggewischt. Er erinnerte sich noch immer an jede Kleinigkeit
seines bizarren Traumes, aber diese Erinnerungen bedeuteten ihm nichts mehr. Es war ein unheimliches, Angst machendes
Gefühl.
»Wie ich es sage, Herr«, sagte der Aufseher. »Der Bursche ist
verrückt! Ihr verschwendet Eure Zeit mit ihm.«
»So, wie er aussieht, habt Ihr ihn wohl eher ein bisschen zu
hart geschlagen«, sagte der Krieger zornig. »Muss ich Euch
wirklich noch einmal auffordern, ihn loszuketten?«
Für einen Moment blitzte es trotzig in den Augen des
Wächters auf, aber dann senkte er voll Furcht den Blick. »Ja,
Herr«, sagte er demütig. »Sofort.«
Während sich der Aufseher neben Mike auf die Knie
niederließ, um seine Ketten zu öffnen, wandte sich der Krieger
wieder an Mike. Er lächelte beruhigend.
»Sprich ruhig offen, Junge«, sagte er. »Niemand wird dir
etwas tun, das verspreche ich dir.«
Mike hatte Mühe überhaupt zu reden. Sein Kopf war
noch
immer voller Bilder, Namen, Gesichter, Worte und Begriffe,
die sich immer mehr weigerten, irgendeinen Sinn zu ergeben.
Singh. Ben. NAUTILUS ...
»NAUTILUS ...«, murmelte er. Das Wort bedeutete
ihm
nichts, aber zugleich spürte er auch, dass es für etwas von
enormer Wichtigkeit stand.
Der Krieger jedenfalls, der sich gerade wieder umgedreht
hatte, um etwas zu dem Aufseher zu sagen, fuhr plötzlich auf
dem Absatz herum und starrte ihn aus weit aufgerissenen
Augen an. »Was sagst du da?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Mike. »Es ... ist mir einfach so
eingefallen.«
»Hast du den Herrn nicht gehört, Kerl? Was fällt dir ein, ihm
nicht zu antworten?!«
Er holte aus, um Mike zu schlagen, aber etwas vollkommen
Unerwartetes, ja, regelrecht Unerhörtes geschah: Der Krieger
griff blitzschnell zu und packte das Handgelenk des Mannes mit
solcher Kraft, dass Mike den Atem anhielt.
»Rühr den Jungen nicht an«, sagte er – leise, aber in einem so
scharfen, drohenden Ton, dass es der Aufseher nicht einmal
wagte, auch nur einen Schmerzlaut hervorzustoßen. Zitternd
wartete er, bis der Krieger seine Hand losgelassen hatte, dann
beeilte er sich Mikes Ketten endgültig loszumachen und sich
hastig zurückzuziehen.
»Also, Junge ... Mike«, fuhr der Krieger fort. »Versuch dich zu
erinnern. Woher kennst du diese Worte?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mike. Er wagte es nicht, aufzublicken.
Sein Herz jagte. Einem Krieger die Antwort zu verweigern war
unvorstellbar. Der Mann würde ihn zweifellos töten. Aber er
wusste es einfach nicht!
Erstaunlicherweise schien seine Antwort den Krieger
jedoch
nicht wütend zu machen. Er seufzte nur ein wenig enttäuscht,
richtete sich wieder auf und wandte sich an den Aufseher, der
sich mittlerweile zitternd in die entfernteste Ecke des Raumes
zurückgezogen hatte. »Du gibst mir gut auf den Jungen Acht«,
sagte er. »Ich bin in wenigen Stunden zurück. Bis dahin gibst
du ihm etwas Anständiges zum Essen; und sorge dafür, dass
er sich wäscht. Er stinkt fast so sehr wie du. Bis ich zurück bin,
darf er mit niemandem reden!« »Ja, Herr«, sagte der Wächter
demütig.
In den nächsten Stunden kam sich Mike vor wie im
Paradies:
Der Aufseher brachte ihm Wasser zum Waschen, saubere
Kleider, die ihm zwar nicht ganz passten, aber trotzdem das
Schönste waren, was er jemals besessen hatte, und das
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