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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Autoren: Giuseppe Furno
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PROLOG
    Vor zwei Jahren im September traf das hundert Meilen östlich von Great Abaco im Bahamas-Archipel entstandene tropische Tiefdruckgebiet Nummer elf, von der warmen Golfströmung nach Norden getragen, auf eine für die Jahreszeit verfrühte arktische Kaltfront. Der Zusammenstoß der beiden Luftmassen erzeugte einen extratropischen Sturm von außergewöhnlicher Stärke, der sich in nordöstlicher Richtung bewegte und die Küste Floridas von Cape Kennedy bis nach Jacksonville streifte.
    Das reizende Atlantikstädtchen St. Augustine, Verwaltungssitz des St. Johns County, wurde von einem Hurrikan mit starken Regenfällen heimgesucht. Innerhalb weniger Stunden traten die Flüsse San Sebastian, Matanzas und North River über die Ufer, und der sturmgepeitschte Ozean brach über den Kanal St. Augustine in die Lagune ein, wo er den Rückfluss der riesigen Flutwelle hemmte. Neunzig Prozent der Stadt wurde überschwemmt: Die Gassen wurden zu Kanälen, die Straßen zu Flüssen voller Alligatoren, die mächtige Festung Castillo de San Marcos, die die Lagune beherrscht, wurde zu einer Insel, gegen die Wellen und Blitze tobten, und auf der Bridge of Lions und am Vilano Beach saßen Tausende Touristen fest, die von der Halbinsel Anastasia und dem Küstenstreifen geflohen waren.
    Das Ganze dauerte von zwölf Uhr mittags bis zwei Uhr nachmittags, in diesen zwei Stunden fiel mehr Regen als in einem Jahr. Dann drehte der Wind und wehte kräftig vom Festland, die Tore des Ozeans öffneten sich wieder, und bei Sonnenuntergang waren von dem Wasser nur noch seine Spuren an den Gebäuden und ein schlammiger Überzug auf allen Flächen zu sehen.
    Dank der Vertrautheit der Einwohner mit den Launen des Wetters und der Lagune, des prompten Einschreitens der Nationalgarde und einer guten Portion Glück gab es keine Opfer, sondern nur Schäden an allem, was vom Wind gerüttelt, ergriffen und weggerissen oder vom Wasser überschwemmt, umschlungen und versenkt worden war. In den folgenden Monaten verwandelten Heerscharen von Zimmerleuten, Tischlern und Malern St. Augustine in eine einzige Baustelle, und langsam strahlten die steinernen Gassen wieder vom Weiß der Häuser im hispanischen Stil, Balkone und Gärten füllten sich mit Blumen, und der extratropische Sturm wurde zu einer Erinnerung, an der im Familienkreis genippt wurde oder die man den Touristen als Zeitgeschichte in Pillenform verabreichte.
    An einem sonnigen Tag Ende Dezember kam dann die größte Überraschung ans Licht, die der Sturm und seine Folgen für das Städtchen bereitgehalten hatten: Auf der Baustelle, wo die vom Hochwasser und einem Blitzeinschlag schwer beschädigte nördliche Bastion des Castillo restauriert wurde, ergriff eine Baggerschaufel jene Erdscholle, mit der sich Vergangenheit und Zukunft von St. Augustine verändern sollten. Denn in diesem Kubikmeter Ausschussmaterial, dem Ergebnis jahrhundertelanger Abfallbeseitigung der Festungsküchen, wurden aus einer Tiefe zwischen siebzig und hundertzehn Zentimetern einundsiebzig Scherben aus farblosem, fein bearbeitetem und mit Emaille und Gold verziertem Glas gefunden.
    Wir erinnern daran, dass St. Augustine, 1565 von dem spanischen Admiral Don Pedro Menéndez de Avilés mitten imGebiet der Timucua-Indianer gegründet, nach derzeitigem Forschungsstand als die älteste europäische Siedlung auf nordamerikanischem Boden gilt. 1586, auf dem Höhepunkt des Krieges zwischen Spanien und England um die Kontrolle über die Neue Welt, wurde St. Augustine von dem englischen Freibeuter Sir Francis Drake geplündert und zerstört. Das wiederaufgebaute Städtchen widerstand den fortwährenden Angriffen der Ureinwohner und der Seeräuber, doch erst 1865, mit dem Ende des Sezessionskriegs und der Wiedereingliederung Floridas in die Vereinigten Staaten, fand St. Augustine endlich Frieden.
    Die Entdeckung der einundsiebzig Glasbruchstücke fügte den ohnehin beträchtlichen historischen Schätzen, die bei regelmäßigen Ausgrabungen im Stadtgebiet bereits gesammelt wurden, ein außerordentlich bedeutendes Element hinzu. Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit der Forschergruppe von der University of Florida auf die raffinierten Dekorationen aus polychromer Emailmalerei, einem typischen Merkmal mittelalterlicher islamischer Kunst, die großen Einfluss auf die italienische Glasbläserei hatte.
    Bei der chemischen Analyse der Bruchstücke wurde zudem Natriumkarbonat gefunden, ein Hinweis auf das Schmelzverfahren mit Sodaasche, wie es
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