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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Autoren: Goliarda Sapienza
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    Hier bin ich also mit vier oder fünf Jahren an einem schlammigen Ort, wie ich ein riesiges Stück Holz hinter mir herziehe. Um mich herum gibt es weder Bäume noch Häuser, nur den Schweiß von der Anstrengung, diesen harten Gegenstand zu schleppen, und das heftige Brennen meiner Handflächen, die ich mir am Holz verletzt habe. Ich versinke bis zu den Knöcheln im Schlamm, aber ich muß ziehen, warum, weiß ich nicht, aber ich muß es tun. Lassen wir diese erste Erinnerung einfach so stehen: Ich habe keine Lust, zu deuten oder mir etwas auszudenken. Ich will euch alles so erzählen, wie es gewesen ist, ohne etwas zu verändern.
    Ich zog also dieses Holzstück hinter mir her, und nachdem ich es irgendwo versteckt oder liegengelassen hatte, ging ich durch das große Loch in der Wand, vor dem nur ein schwarzer Vorhang voller Fliegen hing. Jetzt stehe ich in dem dunklen Raum, in dem wir geschlafen und gegessen haben: Brot und Oliven oder Brot und Zwiebeln. Gekocht wurde nur sonntags. Meine Mutter näht in einer Ecke, die Augen von der Stille geweitet. Sie spricht nie. Entweder schreit sie, oder sie schweigt. Der schwarze, schwere Vorhang ihrer Haare ist voller Fliegen. Meine Schwester sitzt auf dem Boden und starrt sie aus zwei dunklen, in das Fett gegrabenen Schlitzen an. Ihr ganzes Leben lang, so lang es eben war, dieses Leben, ist sie ihr immer mit diesem Blick hinterhergelaufen. Und wenn meine Mutter, was selten vorkam, einmal wegging, mußte man Tina in der Abortkammer einschließen, weilsie sich nicht von ihr trennen wollte. Dann hat sie in der Kammer geschrien, sich an den Haaren gerissen und so lange den Kopf gegen die Wand geschlagen, bis meine Mutter zurückgekommen ist, sie in den Arm genommen und stumm gestreichelt hat.
    Jahrelang hatte ich sie so schreien hören, ohne darauf zu achten, bis ich mich eines Tages vom Holzschleppen müde auf den Boden warf und bemerkte, daß mich ihr Schreien mit einer Lust erfüllte, die mir durch den ganzen Körper ging. Einer Lust, die sich bald in Wonneschauer verwandelte, so stark, daß ich allmählich jeden Tag darauf hoffte, meine Mutter möge weggehen, damit ich mit dem Ohr an der Aborttür diese Schreie hören und genießen könnte.
    Wenn das dann passierte, schloß ich die Augen und stellte mir vor, wie sich meine Schwester die Haut zerkratzte und sich weh tat. Und so kam es, daß ich meinen von diesen Schreien gedrängten Händen folgte und entdeckte, daß es noch mehr Freude machte, sich dort anzufassen, wo man Pipi macht, als frisches Brot oder Obst zu essen. Meine Mutter hat immer gesagt, daß Tina – »das Kreuz, das Gott uns zu Recht für die Sünden deines Vaters auferlegt hat« – zwanzig Jahre alt sei. Sie war aber nur so groß wie ich und so dick, daß sie, wenn man sich ihren Kopf wegdachte, aussah wie die immer verschlossene Truhe meines Großvaters, einer »noch verdammteren Seele als sein Sohn« … Großvater war Matrose gewesen. Was das für ein Beruf sein sollte, verstand ich nicht. Tuzzu sagte, das seien Leute, die auf Schiffen lebten und übers Meer fuhren … aber was war überhaupt das Meer?
    Tina sah wirklich aus wie die Seemannskiste des Großvaters, und wenn ich mich langweilte, schloß ich die Augen und schlug ihr den Kopf ab. Wenn sie zwanzigJahre alt und eine Frau war, dann mußten alle Frauen mit zwanzig entweder so wie sie oder wie die Mama sein; bei Männern war das anders: Tuzzu war groß, und ihm fehlten keine Zähne wie Tina, seine waren stark und weiß wie der Himmel im Sommer, wenn man zum Brotbacken früh aufsteht. Auch sein Vater war so wie er: kräftig und mit Zähnen, die blitzten wie Tuzzus, wenn er lachte. Tuzzus Vater lachte immer. Unsere Mama lachte nie, auch das lag sicher daran, daß sie eine Frau war. Aber auch wenn sie nie lachte und keine Zähne hatte, habe ich doch immer gehofft, so wie sie zu werden; sie war wenigstens nicht klein und hatte große, sanfte Augen und schwarze Haare. Nicht einmal die hatte Tina, sondern nur ein paar Strähnen, die die Mama mit dem Kamm auseinanderzog, um die Kuppe dieses kahlen Eierkopfes zu bedecken.
    Die Schreie haben aufgehört, sicher ist die Mama zurückgekehrt und hat Tina beruhigend den Kopf gestreichelt. Ob die Mama wohl auch weiß, wie schön es ist, sich an dieser bestimmten Stelle zu streicheln? Und Tuzzu, ob der das weiß? Er ist sicher Schilfrohr schneiden gegangen.
    Die Sonne steht hoch, ich muß ihn suchen und ihn nach diesem Streicheln fragen, und nach dem Meer. Ob es
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