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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Autoren: Giuseppe Furno
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drückte einen Zipfel des Bettlakens auf die Wunde. Mit der anderen Hand strich er sich über die Haut. Er begann mit dem Gesicht, seine Fingerspitzen glitten über die hohe Stirn, wo die Zeit und die Mühen noch keine Falten hinterlassen hatten, dann spreizte er die Finger zu einem Fächer und untersuchte seine Wangen, strich sich über Hals und Brust bis zu den Leisten und Oberschenkeln, so weit sein Arm in dieser liegenden Position reichte. Da waren keine Glassplitter mehr. Wieder betrachtete er seine Hände und bemerkte, dass das Halbdunkel heller wurde. An der Wand sah er den Schatten des Betstuhls in einem schwachen, gelblichen Licht, das sich zitternd hin und her bewegte, als ginge jemand mit einer brennenden Kerze durch das Zimmer. Aus seiner beengten Lage drehte er sich mühevoll zu dem Rechteck des herausgerissenen Fensters um. Da war die Lichtquelle: Dort draußen hatte sich eine verfrühte Morgenröte über den Nachthimmel gelegt, ein purpurner Schleier, vor dem von Zeit zu Zeit eine Locke aus Flammen aufloderte, begleitet von einer Rauchwolke.
    Vom Himmel fielen leichte Gegenstände, funkensprühend wie abgebrannte Feuerwerkskörper oder glühende Blätter von einem nahen Waldbrand. Der Lichtschein wurde stärker, ebenso die Schreie. Und zu diesen Schreien gesellten sich nun wie ein gewaltiger Chor aus flehenden Rufen zum Himmel die Glocken der Feuerwachen. Zuerst läutete die Marangona, die Glocke von San Marco. Erhaben und unverwechselbar. Dann stimmte, weiter entfernt, die Grande von Santa Maria Gloriosa in San Polo mit ihrem abfallenden Ton ein. Zu den beiden auseinanderstrebenden Klängen gesellten sich andere, die Andrea, noch benommen, an ihrer Richtung und ihrem Ton zu erkennen versuchte. Von Norden fiel plötzlich die große Glocke von San Zanipòlo ein, die kaum eine Viertelmeile von der Locanda entfernt lag. Ihr starker, lebhafter Klang gab Andrea den Antrieb zum Handeln. Er zog sich am Bett hoch und war mit einem Sprung auf den Füßen.
    Die Wunde am Knie schmerzte pochend. Er warf seine Toga über die Scherben und ging darüber bis zu dem zweibogigen Fenster. Was er sah, ließ ihn erzittern wie der Schlag, den er als Junge bekam, wenn er den Kopf frisch gefangener elektrischer Fische berührte. Er hielt sich an der Säule fest, seine Lippen öffneten sich, sein Atem wurde zu einem mühevollen Hauchen, und seine großen, wasserblauen Augen weiteten sich zu einer Maske, auf der Staunen und Entsetzen einander abwechselten und sich mischten wie Farben auf einer Palette. Denn im Osten, kaum weiter als eine halbe Meile entfernt, erhob sich eine Wand aus Feuer, und hinter den Dächern des Benediktinerinnenklosters, zwischen der Kirche San Francesco della Vigna und dem westlichen Ende des Arsenale 1 fehlte ein ganzes Stück Venedig.

3
    Der Alte hatte sofort erkannt, dass die wirkliche Gefahr das Feuer sein würde. Nicht das Wasser. Denn das Feuer kannte er, er wusste mit ihm umzugehen und hatte es von Kind an am eigenen Leib gespürt. Darum respektierte er das Feuer. Er blickte sich um, dabei versuchte er, die Augen auf der Höhe des Wasserspiegels zu halten. Seine Stirn brannte. Ein Archipel aus glühenden Inseln umgab ihn. Inseln aus brennendem Öl, die auf dem Wasser schwammen.
    Denn mit der Explosion waren die Zisternen aus Terrakotta zur Herstellung des griechischen Feuers, der Mischung aus Öl, Terpentin und Kalk, die für die Brandtöpfe benutzt wurde, zersprungen, und jetzt flossen hunderttausend Pfund dieser Flüssigkeit in die Lagune.
    Der Alte tauchte wieder unter Wasser. Er riss sich die Knopfleiste der Tunika vom Hals bis zur Taille auf, schlüpfte aus dem linken, dann aus dem rechten Ärmel und ließ sie auf den Grund sinken. Dann tauchte er auf. Die tropfnassen, wallenden weißen Haare gingen über in einen ebenso weißen Bart, so dicht, dass man die Lippen und die mit Falten bedeckten Wangenknochen nur ahnen konnte. Er schnappte nach Luft und versank wieder bis zu den Augen. Das Meer wurde wärmer, die Feuerinseln schlossen sich zusammen. Er dachte an Öltropfen, die verstreut auf einer Flüssigkeit schwimmen, und an ihre Neigung, sich zu verbinden. Bald würde jeder Durchschlupf sich schließen, und dieser Wasserspiegel, in dessen Mitte er schwamm, würde sich in eine unermessliche Feuerfläche verwandeln.
    Er dachte an den Tod. Es geschah selten, dass er an den Tod dachte, trotz seines Alters und seines stürmischen Lebens. Ihm fiel die Belagerung von Rodi ein, die von
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