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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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zurück, als könne sie in den freien Himmel sehen.
    Der Schattenlord blieb stehen und griff sich an die Brust. Überraschung huschte über sein Gesicht, dann tiefe Pein. »Hör auf«, krächzte er, machte noch einen Schritt nach vorn und fiel auf die Knie. Er krümmte sich, seine Glieder zuckten. »Du wirst mich vernichten!«, kreischte er. Wurde sein Gewand blasser? Verwischten sich die Konturen seines Gesichts? Er starrte auf seine Hände, die sich in trüben Nebel verwandelten.
    Tahâma sang weiter, sie erhob sich und streckte die Arme aus. Die ganze Halle war von ihrer Stimme erfüllt. Sie sang für den Jäger, dem sie ihre Liebe geschenkt hatte, für den Gnom, der für ihre Freundschaft in den Tod gegangen war, für ihren Vater und ihr Volk, das nach einer neuen, friedlichen Heimat suchte. Schmerz und Leid verflogen. Das war die Kraft in ihr! Die Begabung, von der Vater gesprochen hatte. In ihr waren Harmonie, Melodie und Rhythmus vereint, die Macht der Musik, die das Glück beschwören konnte. Der Stein war nur ein Werkzeug in ihren Händen gewesen, ohne Bedeutung.
    »Du meinst, es ist vorbei, wenn du mich besiegt hast? Du irrst dich. Meine Geschichte ist zu Ende, aber es werden andere Schatten kommen.« Noch einmal schrie er voller Schmerz auf, dann war der Lord verschwunden. Sein gebleichtes Gewand fiel leer zu Boden.
    Plötzlich begann der Boden zu zittern. Alles vibrierte, selbst die Wände. Zuerst konnte Tahâma den Schein nur ahnen, der dort aus der Tiefe drang, dann jedoch schossen die blauen Flammen empor. Noch einmal war es ihr gelungen, das magische Feuer zu rufen. Das Licht wurde immer heller, gleißend, dass es in den Augen schmerzte. Es brach durch die Decke, bahnte sich einen Weg durch Fels und Stein, bis sich der klare Morgenhimmel über ihnen wölbte. Kein Fels polterte herab. Steine und Mörtel verdampften einfach zu feinem Staub und wurden mitgerissen. Und dann sah Tahâma die Seelen. Von ihrem Lied aus der Knechtschaft befreit und von den blauen Flammen getragen, strömten sie dem Himmel entgegen. Löste sich da nicht eine neblige Gestalt und schwebte auf sie zu? Ein Gefühl der Wärme und des Glücks streifte ihr Herz, dann folgte der schimmernde Hauch den anderen nach, um in die höheren Sphären aufzusteigen, dorthin, wo das Leben in Phantásien beginnt und endet.
     
    Als das Licht schon längst erloschen und die Flamme mit den Erlösten im gläsernen Morgen verschwunden war, stand Tahâma noch immer da und sah durch die geborstene Decke in den Himmel, der sich nach und nach blau färbte, erst hell, dann immer dunkler wie die von den Klauen des Lords zerfetzte Tunika um ihren Leib. Still war es nun hier unten in den Verliesen von Tarî-Grôth.
    Endlich senkte Tahâma den Blick. Zögernd lenkte sie ihre Schritte zu dem tiefen Schacht. Sie blieb am Rand stehen und sah hinunter in die undurchdringliche Schwärze. »Mögest du in einem edlen Wesen Phantásiens wiedergeboren werden. Du brauchst nichts zu bereuen, und ich brauche dir nichts zu verzeihen.«
    Sie wandte sich ab und ging dorthin, wo sie den Lord zum letzten Mal gesehen hatte. Sein gebleichtes Gewand lag auf den Steinplatten. Ihre Schritte wirbelten schwarzen Staub auf. Tahâma bückte sich, nahm eine Hand voll Asche und ließ sie durch die Finger rieseln. Sie schien für einen Moment in der Luft zu schweben, dann fuhr ein Windhauch aus dem Schacht und erfasste den Staub, der hoch in die Luft wirbelte. Es war Tahâma, als füge sich die Asche noch einmal zu einem durchscheinenden Körper zusammen, dann verwehte der Wind die Konturen.
    Tahâma verließ das Gewölbe. Der Teil der Burg, in dem sich die Treppe emporwand, stand zum Glück noch, sodass sie bald die Eingangshalle erreichte, in der nun ein großes, rundes Loch klaffte.
    Wurgluck, mein treuer Freund, dachte sie. Seinen toten Körper konnte sie nicht einfach hier zurücklassen. So stieg sie in den oberen Stock hinauf. Auch das Gemach des Schattenlords war halb zerstört, der Gnom jedoch lag noch immer am Fuß der Wand. Rasch sah sich Tahâma um, aber von den Wölfen war nichts zu sehen oder zu hören. Sicher waren sie in die Wälder geflohen, nachdem ihr Herr gestürzt worden war.
    Tahâma kniete nieder und nahm den kleinen Körper in ihre Arme. Plötzlich begann sie zu zittern. Konnte das wahr sein? Er war noch warm. Wie viel Zeit war vergangen, seit der Lord ihn gegen die Wand geschmettert hatte? Sie legte ihre Hand auf seinen Leib, und es schien ihr, als ob sich sein
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