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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Wangen waren eingefallen, seine Haut war totenblass und spannte sich eng um den Schädel, die schwärzlichen Lippen waren nur schmale, dunkle Striche. Es schien kein Leben in diesem Antlitz, nur die Augen, die tief in ihren Höhlen eingesunken lagen, glühten rot. Der Wind erfasste sein Gewand und blähte es wie Schwingen, das silberne Haar flatterte um sein Haupt. Langsam kam er die Treppe herunter. Man sah keinen Fuß unter dem Gewand hervorlugen, und seine Bewegungen waren seltsam fließend. Als er den Hof erreichte, knirschte kein Stein unter seinem Schritt. Die Schar seiner Schattenwesen sah ihn abwartend an. Eine zitternde Unruhe breitete sich aus. Endlich teilten sich die geschwärzten Lippen einen Spalt.
    »Auf nach Gwonlâ!«, hallten seine Worte bis zum Tor hinunter. »Heute Nacht werden wir im Tal des Winolds unsere Gier stillen!«
     

Kapitel 1
Die Tashan Gonar
    Tahâma hob den Kopf und lauschte. Sie kamen näher. Das schauderhafte Heulen war lauter geworden. Das Mädchen erkannte die Stimmen der großen grauen Wölfe aus den Nanuckbergen. Ob sie das Dorf schon erreicht hatten? Strichen sie nun hungrig durch die Gassen? Wieder erklang ein vielstimmiges Heulen und dann noch ein anderes Geräusch, das Tahâma zurücktaumeln ließ. Mordolocs! Einmal hatte sie einen gesehen und seinen Schrei gehört, als sie mit dem Oheim vor vielen Monden durch die Berge gezogen war. Tahâma presste sich die Hände an ihre schmalen, spitz zulaufenden Ohren, doch die Schreie klangen in ihr weiter und schmerzten sie am ganzen Körper. Mordolocs, die gefährlichen pelzigen Räuber mit einem schlanken Leib von fast zehn Fuß Länge, sechs flinken Beinen und einem Rachen voll giftiger Zähne, gehörten nicht in Tahâmas friedliche Welt. Das Blauschopfmädchen wusste, dass diese Raubtiere früher fern des Tales in den roten Felsen gelebt hatten, die die Wüste Vastererg umgaben. Doch nun waren sie über den Kamm der Nanuckberge gestiegen und strömten hinter den Wölfen und anderen Bergwesen zum Talgrund herab, wo das Dorf der Tashan Gonar inmitten eines frischgrünen Hains lag.
    Wann hatte dieser Alptraum begonnen? Wann waren Furcht und Schrecken in das friedliche Land der Blauschöpfe eingedrungen? Vater sagte, der rote Mond hätte das Unglück angekündigt. Tahâma schloss die Augen und begann eine Melodie zu summen. Die Angst lockerte ihren Griff. Die schrecklichen Bilder verschwammen. Ganz deutlich konnte sie ihren Vater sehen, seine schlanke Gestalt in dem blauen, fließenden Gewand, sein geliebtes Gesicht. Sie hörte seine Lieder, mit denen er den Verzagten Mut machte und die Ängstlichen beruhigte. Früher hatte er nur Melodien der Liebe und der Harmonie, des Glücks und der Geborgenheit gespielt, doch heute mussten die Tashan Gonar andere Lieder anstimmen, um dem Schrecken zu begegnen.
    Draußen, auf dem Platz vor dem Haus, erscholl ein Knurren, dann folgten ein Schrei und die Geräusche eines Kampfes. Tahâma öffnete die Augen, das Lied brach ab. Zögernd schob sie sich hinter der alten Truhe hervor, hinter die sie geflüchtet war, und kroch über den dunklen Dachboden zu dem winzigen Giebelfenster hinüber, das zum Marktplatz hinauszeigte. Im Garten unter ihr war nun der Lärm von zerbrechendem Glas und berstendem Holz zu hören. Offensichtlich waren die Kämpfenden dabei, ihre wertvollen Windinstrumente zu zerstören. Einige Saiten rissen mit einem schmerzhaften Ton. Tahâma richtete sich auf und spähte durch die Öffnung. Zwei schattenhafte Gestalten wälzten sich ineinander verkrallt über eine flache Schale mit duftenden Flamingoblüten und krachten dann gegen ein Gestell, an dem tropfen- und rosettenförmige Glasplättchen hingen. Klirrend regneten die kleinen farbigen Kunstwerke herab. Tahâma unterdrückte einen Seufzer.
    Trotz ihrer jungen Jahre war sie eine begabte Windkünstlerin, und nun zerbrach die Arbeit vieler Monde unter den schweren Körpern der Kämpfenden dort unten. Hatten die Musik und die Schönheit der Windspiele in diesen Zeiten überhaupt noch einen Sinn? Jetzt, da das ganze Land in Gefahr war, verschlungen zu werden? Seine grünen Täler, die gewundenen klaren Bäche, die türkisfarbenen Seen, die Bäume der Wälder, deren Blätter sich zweimal im Jahr feuerrot färbten. Ja, selbst das Dorf der Blauschöpfe würde vielleicht nicht mehr lange bestehen. Es waren nicht die wilden Bergbewohner, die den Hain und das ganze Land bedrohten. Weder Wölfe noch Mordolocs hatten die Tashan Gonar aus
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