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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Wieder formte sich eine Melodie in ihr, deren Töne kaum hörbar zwischen ihren Lippen hervorperlten. Ihr Atem wurde ruhig.
    Plötzlich schreckte Tahâma hoch. Sie musste eingeschlafen sein, denn nun drang bleiches Morgenlicht durch das Giebelfenster. Das Mädchen rieb sich die Augen. Was hatte sie geweckt? Waren die Gnolle noch immer unterwegs? Sie mieden das Sonnenlicht und hatten sich bestimmt an einen dunklen Ort zurückgezogen. Langsam richtete sich Tahâma auf und reckte die steifen Glieder. Da! War das nicht das Knarren der Treppe im unteren Stock? Das Mädchen lauschte. Sie konnte Schritte auf dem Holzboden unter ihr hören. Wollten sich die Gnolle während des Tages ausgerechnet in diesem Haus niederlassen? Die Schritte kamen näher, hielten immer wieder inne, strebten aber unaufhaltsam auf die schmale Stiege zu, die zum Dachboden hinaufführte. Tahâma zog einen kurzen Stab mit einem kleinen, wasserklaren Kristall an der Spitze aus der Schärpe ihrer Tunika. Dolche, Schwerter und Degen gab es nicht im Tal der Blauschöpfe. Kyrôl war ihre einzige Waffe, doch würde er genügen, sie vor einer Horde wilder Gnolle zu beschützen?
    Die Holzstufen knarrten, eine Hand legte sich auf den Türgriff. Tahâma hob den Stab, bereit, die scharfe Tonfolge auszustoßen, die den Stein zum Glühen brachte. Quietschend schwang die Tür auf und gab den Blick auf eine schlanke Gestalt mit langem, fliederfarbenem Haar frei. In der Rechten hielt sie einen langen Stab, dessen Spitze bläulich flackerte. Ihr glattes Gesicht mit der fast durchscheinenden weißen Haut war in sorgenvolle Falten gelegt, die türkisfarbenen Augen tasteten über die Schatten des Dachbodens.
    »Vater!«, rief Tahâma und ließ sich vom Schrank herabgleiten. Sie eilte zu ihm und schlang ihre Arme um die Gestalt mit dem alterslosen Antlitz.
    Rothâo erwiderte die Umarmung und schob Tahâma dann eine Armeslänge von sich. Sie spürte die Zärtlichkeit in seinen türkisblauen Augen, als sein Blick aufmerksam über ihr schmales, blasses Gesicht strich, das tiefblaue Haar, das ihr bis zur Hüfte fiel, den zierlichen Körper, der von einer eng anliegenden Hose und einer geschlitzten, knielangen Tunika bedeckt wurde, bis zu den Füßen, die in weichen Schlupfschuhen steckten.
    »Geht es dir gut, mein Kind?«, fragte Rothâo besorgt. »Bist du unverletzt?«
    Tahâma nickte und umarmte ihn noch einmal. Sie presste ihre Wange an seine Brust, und es war ihr, als könne sie die Melodie hören, die er ihr als Kind vor dem Schlafengehen immer vorgesungen hatte. Er war ihr Mutter und Vater zugleich, denn ihre Mutter hatte sie nicht einmal kennen gelernt, so früh war sie gestorben.
    »Was ist geschehen? Warum ist das Dorf verlassen und du bist alleine zurückgeblieben?«, fragte Rothâo und schob die blassblauen Augenbrauen zusammen.
    »Weil, weil ...« Tahâma trat zwei Schritte zurück und hob die Hände. Wo sollte sie nur anfangen? »Lieber Vater, Ihr seid so lange weggeblieben, dass die Hoffnung zu schwinden begann, Ihr könntet Rettung für uns alle bringen«, begann sie, doch dann brach sie ab. Ein trüber Schleier hatte sich über Rothâos Augen gelegt, und plötzlich taumelte er einen Schritt zur Seite. Der Stab mit dem blauen Kristall an der Spitze fiel zu Boden. Schwer atmend stützte sich Rothâo am Türrahmen ab.
    Tahâma stürzte zu ihm. »Was ist mit Euch? Seid Ihr krank? Habt Ihr Hunger oder Durst?«
    Rothâo richtete sich wieder auf. »Ich fürchte, einer der Mordolocs hat seine Zähne in mein Fleisch gegraben, bevor ich ihn vertreiben konnte«, antwortete der Tashan Gonar mit einem von Schmerzen verzerrten Lächeln. Er deutete auf den Saum seines silbernen Gewandes, das sich über dem linken Knöchel rot verfärbt hatte. »Ohne die Kraft der Harmonie und die Stärke des Rhythmus war selbst der mächtige Kristall Krísodul zu schwach.«
    Aus Tahâmas Gesicht wich auch noch der Rest an Farbe. »Die Mordolocs haben Giftzähne«, hauchte sie. »Der Oheim hat es mir gesagt.« Sie zog des Vaters Arm über ihre Schulter, um ihn zu stützen, denn er wankte schon wieder. Langsam führte sie ihn in die prächtig bemalte Stube hinunter, deren Glasmosaikfenster zum Marktplatz hinauszeigten. Zwischen einer perlmuttschimmernden Harfe und einigen anderen großen Saiteninstrumenten lagen weiche Polster auf dem Boden. Früher standen stets Schalen mit kandierten Früchten und Nüssen auf den niedrigen Tischen, nun sammelte sich seit Wochen Staub auf allen
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