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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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ihren Häusern vertrieben. Die Gefahr, der sie nichts entgegensetzen konnten, kam lautlos daher, rückte heimlich und leise näher. Ein Schauder rann Tahâma über den Rücken, als sie daran dachte. Sie hatte es vom Grat oben gesehen oder, besser gesagt, nicht gesehen, denn dort, wo sich einst ein grüner Hügel mit einem fast kreisrunden See erhoben hatte, war nun nichts mehr. Auch der Kiefernhain mit der Quelle war verschwunden.
    Entsetzt hatte Tahâma sich die Augen bedeckt. »Was ist das, Oheim? Wenn ich dorthin sehe, ist mir, als wäre ich plötzlich blind geworden.«
    Der große Mann mit dem samtblauen Haarschopf nickte bedächtig. »Es ist das Nichts, Tahâma. Wir haben gehört, dass andere Länder Phantásiens davon betroffen sind, aber bisher waren die Nanuckberge und unser Tal davon verschont geblieben.« Seine elfenbeinweiße Stirn legte sich in Falten. »Ich wollte den wandernden Jägern keinen Glauben schenken, als sie mir davon berichteten, doch es ist wahr. Nun beginnt das Nichts auch unser Land zu vernichten. Komm schnell. Wir müssen beraten, was geschehen soll.«
    Eilig machten sie sich auf den Rückweg. Die drei Häupter der Tashan Gonar trafen sich in der Turmstube und rangen viele Stunden um eine Lösung. Ihnen war klar, alleine würden sie das Nichts unmöglich bekämpfen können. So saßen sie zusammen, Thurugea, die Mutter der Harmonie, Granho, der Sohn des Rhythmus, und Rothao da Senetas, der Vater der Melodien. Am Ende beschlossen sie, Rothao solle zur Kindlichen Kaiserin reisen und sie um Rat fragen. Sofort packte er sein Bündel und rief mit einer alten Melodie einen Hippogreif zu sich. Das Wesen, halb Adler und halb Pferd, erhob sich mit Rothao auf dem Rücken in die Luft und flog davon. Wochen vergingen, doch die Tashan Gonar warteten vergeblich auf eine Nachricht. Längst war der Hippogreif in seinen Wald zurückgekehrt, von Tahâmas Vater aber fehlte noch immer jede Spur.
    Ein Jaulen riss Tahâma aus ihren Gedanken. Die beiden Kämpfenden unter dem Fenster stoben auseinander und verschwanden in der Finsternis. Das Mädchen reckte den Kopf noch ein wenig höher und spähte in die Gasse, die zu ihrer Linken auf den Platz mündete. Welche fremden Wesen waren noch in das Land der Blauschöpfe eingedrungen? Der weiße Kies schimmerte sanft im Licht des roten Mondes Rubus. Ein Schatten huschte am Haus des Glasbläsers vorbei, hinüber zur Werkstatt des Flötenschnitzers und teilte sich dann in zwei Gestalten. Ganz deutlich zeichneten sich ihre Silhouetten gegen den hellen Grund ab, als sie ins Mondlicht traten. Es waren große, kräftige Wesen mit behaarten Körpern, die sich auf zwei Beinen fortbewegten. Ihre Köpfe glichen denen von Hyänen, und wie Hyänen lebten sie in großen Rudeln zusammen. Sie jagten alles, was ihre Reißzähne bewältigen konnten, verschmähten jedoch auch Aas nicht. Tahâma kannte diese Wesen nur aus Erzählungen wandernder Jäger, aber diese Geschichten ließen sie vermuten, dass die beiden GnoUe nicht alleine ins Dorf gekommen waren.
    Das Mädchen wich vom Fenster zurück. Sie wusste, dass weder die Wölfe noch die Mordolocs die steile Treppe zum Boden hochsteigen konnten, den Gnollen aber traute sie durchaus zu, die Häuser vom Keller bis zum Dach hinauf zu durchwühlen. Sie musste sich verstecken! Suchend sah sie sich auf dem Dachboden um. Kisten, Truhen und Schränke waren in der Dunkelheit kaum zu erahnen, doch sie wagte nicht, ihren Kristall zu benutzen. Sicher würde der Lichtschein von unten bemerkt werden. Sollte sie sich in einer der Truhen verstecken? Nein, wenn die Gnolle in das Haus eindrangen, würden sie Kästen und Truhen durchstöbern. Ihnen war sicher nicht entgangen, dass die Bewohner das Dorf verlassen hatten. Sie konnten also in Ruhe alles nach brauchbarer Beute durchsuchen.
    Tahâma tastete sich zu einem Schrank hinüber, der an den Rändern und über den Türen mit prächtigen Schnitzereien versehen war. Auch in diesem Schrank würde sie nicht sicher sein, aber vielleicht darauf? Sie schob eine Kiste heran, kletterte auf einen Korb, dann auf die Kiste und schwang sich auf den Schrank. Seine Decke war groß genug, dass sie sich darauf ausstrecken konnte, und die Schnitzereien an der Front und an den Seiten verbargen sie von unten, zumindest wenn sie flach dalag. Staub drang ihr in die Nase. Sie unterdrückte das aufsteigende Niesen und lauschte mit weit geöffneten Augen den Geräuschen, die aus den Gassen und vom Marktplatz heraufdrangen.
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