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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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kleinen Leier. Immer wieder kam einer seiner Diener, verbeugte sich und eilte dann wieder davon. Das Gesicht des Großvaters wurde kleiner, sie konnte nun seinen Diwan erkennen und einen Teil seines Gemachs.
    »Er packt«, murmelte der Gnom, »oder besser gesagt, er lässt packen.«
    Vor dem Palast standen drei große Wagen, jeweils mit sechs Pferden davor. Der Strom der Diener, die sorgsam verschnürte Pakete darin verstauten, wollte nicht enden. Nun trat Centhân an das erste Fahrzeug heran und sang dem Mann neben dem Kutschbock ein paar Worte ins Ohr. Tahâma sah ihn nicken. Er lächelte verzückt. Ein anderer Bediensteter brachte eine prächtig gesattelte Stute und half seinem Herrn in den Sattel.
    »Er verlässt Nazagur«, rief Tahâma aus.
    Der Erdgnom nickte. »Mit seinem treu ergebenen Gefolge und nicht gerade mit leeren Händen.«
    »Sie werden ihn nicht einfach mit all den Schätzen gehen lassen!«
    Wurgluck grunzte. »Sie haben keine andere Wahl, solange sie unter dem Bann seines Liedes stehen.«
    Crachna kicherte. »Schlau, ja, sehr schlau, der Herr Erdgnom. Du hast inzwischen sicher auch erraten, warum die Tashan Gonar ihn davongejagt haben – solange sie es noch konnten.«
    Das Mädchen antwortete an seiner statt. »Er war der Erste, in dem sich alle drei Talente vereinten, doch statt zum Wohl seines Volkes setzte er sie ein, um Macht auszuüben und die Tashan Gonar zu beherrschen. Darum musste er gehen.«
    Die Spinne nickte. »Die Macht ist ein seltsames Ding. Wer einmal davon gekostet hat, den verlangt es nach mehr. Hüte dich, mein Kind!«
    Das Bild verblasste. Ein Nebelschweif verdichtete sich und nahm die Konturen des Schattenlords an. Seine roten Augen trafen Tahâmas Blick. War es Qual, die sie darin las? Ein stürmischer Wind zerrte an seinem Gewand und seinen Haaren. Der Körper begann zu zerfließen und löste sich auf.
    »Was war er und warum? Ist es nun vorbei?«, fragte Tahâma leise. »Er selbst schien unter seinem ewig währenden Schrecken zu leiden.«
    »Er sprach von seinen Schöpfern«, fügte Wurgluck hinzu.
    »Den Menschen, ja«, erklärte die Spinnenfrau. »Sie haben ihn aus Alpträumen geformt. Sie werden nicht müde, sich Geschichten von Angst und Schmerz auszudenken.«
    Gestalten huschten über ihre Spiegelaugen. Schweigend sahen Tahâma und Wurgluck den rasch wechselnden Bildern zu. Als die Farben verschwammen, ließ das Mädchen den Kopf sinken.
    »Dann werden die Schatten wiederkommen, wie er es vorausgesagt hat. Können wir gar nichts dagegen tun?«, begehrte sie auf.
    Wieder wirbelten in den Spinnenaugen farbige Spiralen, die sich langsam zu einem Bild zusammenfügten. Tahâma sah einen hohen, verschneiten Berg, dessen Gipfel abgeflacht war und eine weite Ebene bildete. In seiner Mitte erhob sich ein schmaler, hoher Gipfel aus blauen Spitzen. Drei dieser Zacken hielten ein riesiges Ei. Neben und hinter dem Ei ragten weitere blaue Pfeiler auf. Es sah aus, als liege das Ei in blauem Feuer, das plötzlich zu Eis erstarrt war. Ein kalter Wind blies weiße Flocken vor sich her. Das Ei kam rasch näher. Nun erkannte Tahâma eine Öffnung, und bevor sie Crachna fragen konnte, was das zu bedeuten habe, fand sie sich schon im Innern des Eis wieder. Sie sah einen alten Mann, der in einem Buch schrieb. Noch ehe sie Gelegenheit hatte, den Mann mit seinem zerfurchten Gesicht genauer zu betrachten, fixierten die Augen der Spinnenfrau das Buch, in dem er gerade schrieb. Die Schrift leuchtete bläulich. Tahâma rückte noch ein Stück näher, um die Worte entziffern zu können. Ihre Augen huschten über die letzten Sätze. Tahâma stieß einen überraschten Schrei aus.
     

Epilog
Der Alte vom Wandernden Berg
schließt das Kapitel
    Tahâma stieß einen überraschten Schrei aus«, erschien in blaugrüner Schrift auf dem weißen Papier. Der Alte sah sich nicht um, kein Muskel in seinem verwitterten Gesicht zuckte. Er schrieb immer weiter, stetig und gleichmäßig. Erstarrt stand Tahâma da und sah auf die Seiten des Buches herab, das sich nun mit ihren verworrenen Gedanken füllte. »Crachna, was soll das bedeuten?«, floss aus der Spitze des Stifts, noch ehe die Worte Tahâmas Lippen verlassen hatten. »Es ist die Unendliche Geschichte«, sagte die Spinnenfrau leise und voller Ehrfurcht. »Das Buch ist Phantásien. Was geschieht, wird in ihm aufgeschrieben, und was geschrieben steht, geschieht auch. Das Buch ist hier, und es ist auch in der Menschenwelt. Es besteht in vielen Sprachen und
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