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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Verzweiflung stürzte auf sie ein und schmerzte sie.
    »Beuge dich hinab und sieh genau hin«, sagte der Jäger.
    Wurgluck stöhnte gequält. Auch er war an den Schacht herangetreten, so als ziehe etwas dort unten ihn unwiderstehlich an.
    Tahâma ließ sich auf die Knie sinken und beugte sich nach vorn. Geisterhafte Wesen waberten durch die Schwärze, leises Seufzen drang an ihr Ohr. Nun konnte sie dünne Gestalten erahnen, schmerzlich verzerrte Gesichter, Hände, Hilfe suchend emporgereckt. Sie fuhr zurück. Auf Händen und Knien rutschte sie rückwärts über den steinernen Boden. »Das ist nicht möglich«, keuchte sie.
    »Ihre Seelen, all die geknechteten Seelen!«, raunte ihr Ceredas zu. Aufrecht stand er am Abgrund und sah hinunter. »All die Männer, Frauen und Kinder, die er und seine Diener getötet haben. Statt in die höheren Sphären zu gelangen und von dort als neues Leben nach Phantásien zurückzukehren, sind sie hier gefangen. Sie geben ihm die Kraft, seine Untoten zu erwecken und seine Geschöpfe des Grauens zu formen.«
    Zusammengekauert saß Tahâma da. Tränen rannen über ihre Wangen. »Was für eine unfassbare Qual!«, stieß sie hervor.
    Céredas trat zu ihr und zog sie hoch. »Die Nacht ist fast schon vergangen. Bald wird der Herr von Tarî-Grôth zurückkehren. Wir müssen ein Versteck für dich finden, in dem du warten kannst, bis die Gelegenheit günstig ist, dich dem Lord zu stellen.«
    Eilig durchquerten sie die große Halle. Tahâma vermied es, zu dem Schacht der verlorenen Seelen zurückzusehen, aber die Verzweiflung der Toten folgte ihr.
    Sie hatten das Tor der Halle schon erreicht, als Tahâma unvermittelt stehen blieb. »Wo ist Wurgluck geblieben? Eben war er noch da!«
    Céredas fluchte. »Er hat sich aus dem Staub gemacht, der Feigling. Das sieht ihm ähnlich.«
    »Nein«, widersprach Tahâma. »Er ist ein mutiger und treuer Freund, der stets an meiner Seite war, egal welche Gefahren unseren Weg kreuzten. Wie kannst du ihm nur so etwas unterstellen?«
    Der Jäger hob die Hände. »Ich wollte nicht schlecht von ihm reden, verzeih. Es waren wohl seine Neugier und sein Entdeckergeist, die ihn forttrieben. Komm jetzt, ich führe dich in eine Kammer, wo dich niemand entdecken wird. Dann mache ich mich auf die Suche nach unserem eigensinnigen Erdgnom.«
    Tahâma zögerte noch immer. Sie griff nach Céredas’ Händen. »Du wirst ihn unversehrt zu mir bringen, nicht wahr?«
    »Aber ja, mein Liebes, fürchte dich nicht.« Damit führte Céredas sie energisch weiter, und sie ließ es geschehen. Fühlte sie nicht die Liebe in ihrem Innern glühen? Musste sie ihm nicht vertrauen? Und doch nagten die Zweifel an ihr, die Wurgluck gesät hatte.
    Céredas geleitete Tahâma die Treppe hinauf und schob sie durch den Torbogen, der sie in den Westflügel führte. Zwei weitere Treppen gingen sie hinauf und einen langen Gang entlang. Er war voller Staub, der unter ihren Schritten in feinen Wölkchen aufwirbelte. Ganz am Ende öffnete der Jäger eine Tür und ließ Tahâma eintreten. Die Kammer war klein. Ein winziges Fenster blickte zum Hof hinaus. Sie konnte den Weg vom Tor her, den Brunnen und die Eingangstreppe erkennen. Im Osten begann der Nachthimmel schon zu verblassen. Bald würden die unheimlichen Bewohner der Feste zurückkehren.
    »Ich besorge dir etwas zu essen«, sagte Céredas. »Ruh dich aus und sammle deine Kräfte. Du brauchst nicht zu fürchten, hier überrascht zu werden.« Er legte die Arme um sie und zog sie noch einmal an sich.
    Dann ging er hinaus, und Tahâma hörte, wie der Schlüssel im Schloss knirschte und dann abgezogen wurde. »Was machst du da?«, rief sie und rüttelte an der Klinke. »Warum schließt du mich ein?«
    »Es ist nur zu deiner Sicherheit«, klang seine Stimme dumpf durch das Holz. »Ich komme bald wieder.«
    Seine Schritte entfernten sich. Seufzend ließ sich Tahâma auf das Bett sinken. Eine Staubwolke stieg auf. Hustend sah sie sich in der Kammer um. Eine Truhe stand an der Wand und ein Hocker unter dem Fenster. Sie versuchte ihre Unruhe zu ignorieren, legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Aber ihr Herz klopfte noch immer rasch, und die Bilder dieser Nacht tanzten einen unheimlichen Reigen hinter ihren Lidern. Nein, sie würde hier, eingesperrt in dieser Kammer, keine Ruhe finden. Dennoch blieb sie liegen. Was würde es nützen, wie ein gefangenes Tier auf und ab zu gehen?
    Sie tastete nach dem Stab in ihrer Schärpe. Leise summte sie eine Weise
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