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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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durchquerten die einst prächtige Eingangshalle. Jetzt waren die Gemälde an den Wänden vom Alter dunkel geworden, die Gobelins verblasst, die Teppiche auf dem Boden verschlissen. Eiserne Halter zierten die Säulen, aber es steckten keine Kerzen darin. Stattdessen hatten viele Generationen von Spinnen sie dazu genutzt, ihre Netze zwischen den Streben zu weben.
    Sie verließen die Halle durch eine zweiflügelige Tür und betraten den alten Speisesaal. Staubige Teller und Kelche zierten die lange Tafel, die einst weißen Damasttischtücher waren im Laufe der Zeit grau geworden, die Polster der Stühle verblasst, ihr Stoff vom Alter brüchig geworden. In einigen Wandnischen standen Rüstungen mit rostigen Schwertern in den eisernen Handschuhen. Die beiden Ausbuchtungen nach Norden wurden von bogenförmigen Fenstern durchbrochen. Darunter standen in der rechten Nische eine mächtige Eisentruhe, in der linken ein kleiner Tisch mit einer Polsterbank.
    Wurgluck trat heran und betrachtete den feinen Porzellanteller und einen goldverzierten Weinkelch. Ein Rest roter Flüssigkeit war am Grund des Glases zu sehen, auf dem Teller lagen einige Krümel, doch kein Körnchen Staub. »Seltsam«, brummelte er und sah sich nach Tahâma um. Aber das Mädchen war schon wieder an der Tür und winkte ihm, ihr zu folgen.
    Eine breite Treppe führte in den oberen Stock. Ein Gemach mit einem prächtigen Himmelbett zog Tahâma an, dennoch fiel es ihr schwer, die Schwelle zu überschreiten und sich dem Bett zu nähern. Die schweren roten Samtvorhänge waren von Motten zerfressen, die Brokatdecke und die Kissen verschlissen. Alles schien alt und verlassen, und dennoch spürte Tahâma eine seltsame Unruhe, als ob fremde Augen sie beobachteten.
    »Sieh mal«, flüsterte der Gnom, »die Fenster sind vermauert. Der Lord liebt das Sonnenlicht nicht besonders.«
    Tahâma zwang sich, an das Bett heranzutreten. Sie streckte ihre Hände aus, ohne Decke und Kissen zu berühren, und schloss die Augen. »Ja, hier ruht er bei Tag«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich kann ihn immer noch spüren.«
    »Vielleicht erklärt das, warum man sich hier so beobachtet fühlt«, murmelte Wurgluck. Trotzdem huschten seine grünen Augen weiterhin verstohlen umher.
    Eine in der Wand verborgene Tür, die sie erst auf den zweiten Blick bemerkten, führte in die benachbarte Kammer. Dort fanden sie ein schmales Bett mit Kissen und zerwühlten Laken, eine Kommode mit einer Wasserschüssel und einem Krug. Der Krug war gefüllt. Neben dem Bett lag ein Leinenhemd auf einem Hocker. Zwei Schlupfschuhe standen auf dem Boden. Wurgluck sah Tahâma scharf an. Sie aber wandte sich schweigend ab und verließ die Kammer.
    Kaum hatten sie diese Gemächer hinter sich gelassen, verflog das bedrückende Gefühl. Sie warfen noch einen Blick in zwei andere Räume, die anscheinend seit langer Zeit niemand mehr betreten hatte.
    »Was machen wir nun? Willst du auf seine Rückkehr warten?«, fragte der Erdgnom, als sie die Treppe wieder hinabstiegen.
    »Zuerst sehen wir uns die Verliese und Kerker an«, sagte Tahâma. Sie ignorierte das kalte Schaudern, das ihr den Rücken emporkroch, umklammerte den Stab und stieg Stufe für Stufe hinab. Mit jeder Windung fiel es ihr schwerer weiterzugehen. »Kannst du es auch fühlen?«, fragte sie nach einer Weile und blieb schwer atmend stehen.
    »Was?«
    Sie suchte nach Worten. »Das Leid«, stieß sie schließlich hervor.
    Wurgluck schüttelte den Kopf. Er griff nach Tahâmas Hand. Langsam gingen sie weiter hinab, bis die Treppe in einem großen leeren Raum endete. Von hier gingen mehrere Türen ab, aber es war die große in der Mitte, die Tahâma anzog und gleichzeitig abstieß. Sie musste diese Tür öffnen, obwohl sie sich vor dem fürchtete, was dahinter auf sie wartete. Langsam, als blase ihr ein scharfer Wind entgegen, tastete sie sich Schritt für Schritt auf die Tür zu. Ihre Hand reckte sich nach vorn, um die Klinke zu berühren, dann aber fuhr Tahâma herum und sah zur Treppe zurück. Sie fühlte die sich nähernden Schritte mehr, als dass sie sie hörte.
    »Es kommt jemand«, flüsterte sie und hob den Stab.
    Der Lichtschein erfasste die letzte Biegung. Noch waren die Stufen leer, dann jedoch trat eine Gestalt ins blaue Licht und blieb bewegungslos stehen. Der Kristallstab fiel klappernd zu Boden. Tahâma griff sich an den Hals, als ob sie keine Luft mehr bekäme. Sie wankte und fiel auf die Knie. Tränen stürzten aus ihren Augen und rannen

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