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Die Schale der Winde

Die Schale der Winde

Titel: Die Schale der Winde
Autoren: Robert Jordan
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KAPITEL 1
    Ein Bad
    Die Tage erschienen Rand endlos, seit er Perrin fortgeschickt hatte, und die Nächte noch endloser. Er zog sich in seine Räume zurück und wies die Töchter des Speers an, niemanden zu ihm zu lassen. Nur Nandera durfte die Türen mit den vergoldeten Sonnen passieren, um ihm seine Mahlzeiten zu bringen. Die kräftige Tochter des Speers stellte dann ein abgedecktes Tablett ab, nannte jene, die ihn aufsuchen wollten, und sah ihn anklagend an, wenn er wiederholte, daß er niemanden empfangen wolle. Er hörte häufig mißbilligende Kommentare der Töchter des Speers im Gang, bevor Nandera die Tür hinter sich schloß. Er sollte sie hören, sonst hätten sie die Zeichensprache benutzt. Aber wenn sie ihn zermürben wollten, indem sie behaupteten, er schmolle... Die Töchter des Speers verstanden nicht und würden es vielleicht auch dann nicht verstehen, wenn er es ihnen erklärte. Sofern er sich dazu hätte überwinden können.
    Er stocherte ohne Appetit in seinem Essen herum und versuchte dann zu lesen, aber selbst seine Lieblingsbücher konnten ihn nur einige Seiten lang ablenken. Mindestens einmal an jedem Tag hob er, obwohl er sich selbst versprochen hatte, es nicht zu tun, den schweren Kleiderschrank aus poliertem Schwarzholz und Elfenbein in seinem Schlafraum auf Stränge von Luft, ließ ihn beiseite gleiten und löste vorsichtig die Fallen, die er aufgestellt hatte, und die Spiegelmaske, welche eine glatte Wand vorgetäuscht hatte. Dort, in einer mit der Macht ausgehöhlten Nische, standen zwei kleine, ungefähr einen Fuß hohe Statuen aus weißem Stein, eine Frau und ein Mann, beide in fließenden Gewändern und mit einem über den Kopf gehaltenen Kristallspeer in der Hand. In jener Nacht, in der er das Heer nach Illian marschieren ließ, war er allein nach Rhuidean gegangen, um diese Ter'angreale zu holen: Wenn er sie brauchte, blieb ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit, hatte er sich gesagt. Seine Hand würde sich nach dem bärtigen Mann ausstrecken - der einzigen Figur des Paars, die ein Mann benutzen konnte - und dann zitternd innehalten. Ein Finger würde die Statuette berühren, und mehr von der Einen Macht, als er sich vorstellen konnte, würde ihm zur Verfügung stehen. Damit konnte ihn niemand besiegen, niemand ihm widerstehen. Mit dieser Macht, hatte Lanfear einst gesagt, konnte er den Schöpfer herausfordern.
    »Sie gehört rechtmäßig mir«, murmelte er stets, wenn seine Hand kurz vor der Figur zitternd innehielt. »Mir! Ich bin der Wiedergeborene Drache!«
    Und er zwang sich jedesmal, sich wieder zurückzuziehen, wob die Spiegelmaske neu und die unsichtbaren Fallen, die jedermann zu Asche verbrennen würden, der sie ohne das dazugehörige Paßwort zu überwinden versuchte. Der riesige Kleiderschrank bewegte sich leicht wie eine Feder wieder auf seinen Platz. Er war der Wiedergeborene Drache. Aber genügte das? Es würde genügen müssen.
    »Ich bin der Wiedergeborene Drache«, flüsterte er den Wänden manchmal zu, und manchmal schrie er sie an: »Ich bin der Wiedergeborene Drache!« Er wütete leise und laut gegen jene, die sich ihm entgegenstellten, die blinden Narren, die nicht sehen konnten und sich aus Ehrgeiz oder Habsucht oder Angst auch weigerten zu sehen. Er war der Wiedergeborene Drache, die einzige Hoffnung der Welt gegen den Dunklen König. Das Licht möge der Welt dabei helfen.
    Aber sein Wüten und seine Gedanken daran, das Ter'angreal zu benutzen, waren nur Versuche, anderem zu entkommen, und das wußte er. Allein stocherte er in seinem Essen herum, wenn auch jeden Tag lustloser, und versuchte zu lesen, wenn auch selten, und Schlaf zu finden. Er schlief im Verlauf der Zeit häufiger, wobei es ihn nicht kümmerte, ob die Sonne tief oder hoch stand. Der Schlaf kam in unregelmäßigen Abständen, und was seine wachen Gedanken quälte, schlich sich auch in seine Träume ein und ließ ihn zu bald aufschrecken, um erholt zu sein. Kein noch so sorgfältiges Abschirmen konnte fernhalten, was bereits hineingelangt war. Er mußte sich den Verlorenen und früher oder später auch dem Dunklen König selbst stellen. Er mußte sich Narren stellen, die ihn bekämpften oder davonliefen, obwohl ihre einzige Hoffnung darin bestand, sich hinter ihn zu stellen. Warum ließen ihn seine Träume nicht in Ruhe? Er erwachte stets ruckartig aus einem Traum, noch bevor er recht begonnen hatte, um dann von Abscheu gegen sich selbst erfüllt und durch den mangelnden Schlaf verwirrt dazuliegen,
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