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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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gedacht?«
    Er hob eine Hand und fuhr mit den verknöcherten Fingern durch ihr Haar. Die Kälte durchbohrte sie wie ein Schwertstoß, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
    Der Lord wandte sich ab und ging zum Bett zurück. »Komm zu mir«, sagte er, ohne die Stimme zu heben.
    Tahâma stand noch immer reglos da. In ihr kämpfte das Feuer ihres Zorns mit seiner eisigen Kälte. Sie öffnete den Mund, um ihm ihre Verachtung entgegenzuschleudern. Da zog eine Bewegung oben auf den schweren Vorhängen des Betthimmels ihre Aufmerksamkeit auf sich. Bevor sie begriff, was das zu bedeuten hatte, rauschte eine kleine, braune Gestalt an dem Samtvorhang herab, stürzte sich auf den Kristallstab und lief auf Tahâma zu. Sie streckte ihre Arme aus, aber einer der Wölfe war schneller. Mit einem gewaltigen Satz sprang er zwischen Wurgluck und das Blauschopfmädchen.
    »Wirf ihn!«, schrie sie, erstaunt, so plötzlich ihre Stimme wiedergefunden zu haben. Ihre Hände reckten sich nach vorn, aber der Stab war für den Erdgnom zu schwer. Er wirbelte hoch und landete im aufgerissenen Rachen des Wolfes. Mit einem Schnappen schlug das Schicksal zu. Der Wolf lief zu seinem Herrn und reichte ihm den Stab, während der andere Wolf Wurgluck beim Kragen packte und ebenfalls zum Schattenlord schleppte.
    Der Gnom strampelte und wehrte sich, aber was konnte er gegen dieses Untier ausrichten? Tahâma wollte ihm helfen, doch da stellte sich ihr Céredas mit gezücktem Dolch in den Weg.
    Die Klauenhand des Schattenlords schoss nach vorn und packte den Gnom am Genick. »Was ist das für eine Laus in meinem Bett?«, fragte er voll Verachtung. Er hob den Arm und schleuderte den Erdgnom gegen die Wand. Tahâma schrie auf. Mit einem knirschenden Geräusch schlug Wurgluck gegen die Mauer und blieb mit dem Gesicht nach unten wie ein Bündel Lumpen auf dem Boden liegen.
    Nicht einmal die Wölfe interessierten sich für den zerschlagenen kleinen Körper. Tränen rannen über Tahâmas Gesicht. Sie konnte nicht einmal zu ihm gehen und um ihn trauern.
    Der Schattenlord ließ sich in die Kissen des riesigen Himmelbetts sinken. Er stützte den Ellbogen auf und legte den Kopf in seine tote Hand. »Bring sie mir!«, befahl er Céredas.
    »Ich will mich an ihrer Verzweiflung laben, bevor ich mich hier zur Ruhe legen und erstarren werde, bis die Nacht sich wieder herabsenkt und die Jagd neuerlich beginnt. Gib mir deine Gefährtin, auf dass heute noch eine Seele in den Schacht hinabsteige und einen neuen Schatten der Nacht zum Leben erwecke.«
    Céredas griff nach Tahâmas Arm. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. Er schien sie nicht mehr zu erkennen. Wie sollte sie sich gegen den starken Jäger wehren? Verfolgten nicht auch die beiden Wölfe jede ihrer Bewegungen mit ihrem Blick? Der Lord hatte mit einem Fingerschnippen ihren Freund Wurgluck getötet, er hatte ihr Céredas geraubt und Krísodul genommen. Wozu noch Widerstand leisten? Es gab kein Glück mehr in dieser Welt, keine Freude, keine Hoffnung. Die Macht seines Blickes zog sie an, der Arm des Jägers legte sich um ihre Schulter. War es denn so schlimm, seinem Befehl zu folgen?
    Sie schüttelte Céredas’ Hand ab und ging zum Bett hinüber. Der Jäger blieb stehen, seinen trüben Blick auf sie gerichtet. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, als die weißen Krallenfinger Tahâmas seidigblaue Tunika umspannten und das Mädchen heranzogen.
    »Spürst du die kalte Angst durch deine Adern kriechen?«, hauchte der Lord ihr ins Ohr. »Sie erfrischt mich. Dich aber wird sie peinigen und lähmen, bis dein Herz schließlich stillsteht.«
    Dieser Schmerz! Tahâma wand sich, aber sie konnte sich seiner Macht nicht entziehen. Ihre Kraft schwand, ihr Lebenswille verglühte. Sterben, ja, das würde ihr Erlösung bringen.
    »Nein«, zischte eine kalte Stimme in ihrem Kopf. »Du wirst niemals frei sein. Dein Körper verweht, deine Geschichte wird vergessen, deine Seele jedoch bleibt in ewiger Sklaverei sein Eigentum.«
    Etwas in ihr regte sich. Es war nicht ihr Geist und auch nicht ihr Wille. Tief in ihr bildeten sich Töne, fügten sich zu einer Melodie und drängten dann in raschem Rhythmus zu ihren Lippen.
    Der Lord fuhr zurück und presste sich die Hände auf die Ohren. »Hör auf damit!«, schrie er.
    Verwirrt brach das Mädchen ab. Seine Krallenhand uraschloss ihren Arm und zog blutige Spuren über die weiße Haut, als er sie grob vom Bett zerrte. In der einen Hand den Stab mit dem Kristall, an der anderen das
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