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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Brustkorb kaum merklich hob und senkte. Tahâma drückte Wurgluck behutsam an sich, wiegte ihn in ihren Armen und flüsterte ihm sanfte Worte ins Ohr, doch seine Lider blieben fest geschlossen. »Ich werde dich zu den Lebenden zurückholen«, flüsterte sie und erhob sich.
    Wurgluck auf ihren Armen, lief sie die Stufen hinunter und durchquerte die Halle, ohne sich noch einmal umzusehen. Auch draußen im Hof war von den Wesen des Lords nichts mehr zu sehen. Waren sie ihrem Herrn gefolgt und verweht?
    Die Stute begrüßte sie mit einem freudigen Wiehern. Tahâma schob den reglosen Erdgnom auf ihren Rücken und zog sich dann selbst hinauf. Sie musste das Pferd nicht antreiben. Eilig strebte es dem Burgtor zu, passierte die zerbrochenen Wächter und jagte den Hügel hinunter. Unten am Waldrand angekommen, hielt Tahâma inne und sah zurück. Düster hob sich die trutzige Feste gegen den Himmel ab. Das Mädchen glitt vom Pferd und legte den Erdgnom auf ein weiches Polster aus abgestorbenen Moosen.
    Wie konnte sie ihren Freund retten? Würde ein Lied ihn aus seiner tiefen Ohnmacht erwecken? Tahâma schloss die Augen und wartete. Sie musste die Töne kommen, den Harmonien freien Lauf lassen. Leise begann sie zu summen, ohne zu wissen, wie die Melodie weitergehen würde. Ihre Stimme war klar und schwoll mit den mächtigen Klängen an. Es war ihr, als vereinten sich alle Lieder und Harmonien, die die Tashan Gonar über Jahrtausende gesammelt hatten, zu einem einzigen Choral. Alles, was gebannt war, versteckt oder fast vergessen, strömte zusammen und drängte ans Licht.
    Der Boden begann zu zittern. Der ganze Berg bebte, die Mauern der Burg wankten, und dann, mit einem leisen Seufzer, brachen sie einfach in sich zusammen. Eine Staubwolke stieg in den Himmel auf. Als der Wind sie verwehte, blieb nur ein Hügel aus grauem Stein zurück. Aber was war das? Täuschten sie ihre Augen? Der braune Hügel begann sich mit frischem Grün zu überziehen, aus den eben noch toten Ästen der Bäume schoben sich Blätter hervor.
    Tahâma sang weiter. Eine Schar Vögel mit buntem Gefieder flatterte zwitschernd über sie hinweg. Sie drehte sich um. Auch der Wald hinter ihr begann sich zu verändern. Farne wuchsen aus dem Boden, Blumen schmückten die sonnigen Lichtungen. Die Flechten fielen ab, als frische Nadeln aus den Zweigen drangen. Das schlammige Bachbett, das sich am Waldrand entlangzog, füllte sich mit klarem Wasser. Zart perlten noch einige Töne von ihren Lippen und sehwebten in den Sonnentag. Dann war es still. Tahâma kniete neben Wurgluck nieder. Gerade als sie ihre Hand auf seine Brust legte, schlug der Gnom die Augen auf.
    »Wundervoll.« Er seufzte und setzte sich auf. »Du hast es geschafft!«
    Tahâma umarmte ihn. »Komm, lass uns zurückreiten.«
    Durch den frischgrünen Wald, der erfüllt war vom Gesang der Vögel, ritten sie bis zu der verfallenen Hütte. Obwohl es noch heller Tag war, stand das Tor offen. Sie traten in den Felskessel, umrundeten den See und folgten dann dem Höhlengang, der sie zurück zu Crachnas Schlucht brachte. Die Spinnenfrau war nirgends zu sehen, ihre Netze hingen, in der Mitte zerschnitten, zu beiden Seiten der Felsen schlaff herab.
    Tahâma führte die Stute aus der Schlucht heraus und blieb dann unvermittelt stehen.
    »Was ist?«, fragte Wurgluck und drängte sich an ihr vorbei. Eine Weile stand er sprachlos neben ihr, dann flüsterte er: »Unglaublich!«
    Wie die Landschaft sich verändert hatte! Keine bedrohliche Wolke hing mehr über den Berggipfeln, deren verschneite Hänge nun im Sonnenlicht blitzten. Ein klarer Bach rann die Bergflanke herab und fiel weiß schäumend in ein felsiges Becken. Schilf säumte den kleinen See, Libellen schwirrten über dem Wasser. Eine jauchzende Stimme klang zu ihnen herüber.
    »Crachna?« Tahâma ging zum Ufer hinüber.
    Durch das seichte Wasser watend kam die Spinnenfrau auf sie zu. »Da bist du ja wieder, Hüterin der blauen Flamme, Bezwingerin der Schatten. Was willst du von uns?«
    »Wie ich sehe, sind deine Augen noch immer klar«, sagte Tahâma.
    Crachna nickte. »Komm näher, setz dich und sieh hinein. Vielleicht wirst du Antworten auf deine Fragen finden.«
    Tahâma sah in die Spinnenaugen. »Aber das ist ja mein Großvater«, rief sie überrascht aus, als sich das erste Bild zeigte. Der Erdgnom trat neugierig näher. »Ich verstehe nicht, was er da tut«, sagte Tahâma und schüttelte den Kopf.
    Der Weise von Krizha sang und spielte auf einer
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