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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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»Versprich es mir ... dein Großvater ...« Er brach ab. Noch einmal holte er Luft. »Sing«, krächzte er, »sing mir mein Totenlied!«
    Mit tränenerstickter Stimme begann Tahâma zu singen. Es waren keine Worte, nur tröstliche Töne, die sich zu einer Melodie fügten. Ihre Stimme wurde kräftiger, die Tränen auf ihren Wangen trockneten. Noch immer streichelte sie die Hand des Vaters, die schlaff in der ihren lag.
    Auf einmal erklang seine Stimme, kräftiger als zuvor. »Bring mir Krísodul!«
    Das Mädchen beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Rothâo löste den blauen Stein von der Spitze des Stabes und legte ihn Tahâma in die Hände.
    »Er ist dein. Wer sonst wäre dazu ausersehen, ihn nun zu besitzen.«
    »Aber Vater, wer bin ich, dass ich diesen Schatz annehmen könnte?«, rief Tahâma aus. »Ein unwissendes Kind, kaum ein paar Dutzend Jahre auf dieser Welt. Nur wer stark ist, vermag den Kristall einzusetzen. Seine Macht entfesseln können nur die drei Kräfte der Musik zusammen – habt nicht Ihr selbst mir das immer wieder erklärt?«
    »Ja, du hast Recht«, stimmte ihr Rothâo zu, »dennoch wird er dir helfen. Du bist stark im Willen und voll Zuversicht im Herzen. Tahâma, meine Tochter und Centhâns Enkelin, du bist begabt, die Vorsehung hat dich auserwählt. Glaube an dich, so wie ich es tue. Verwende Krísodul klug und erinnere dich stets an die Melodien, die ich dich gelehrt habe. In Melodie, Harmonie und Rhythmus liegt die Kraft, das darfst du nie vergessen. Der Stein wird dir helfen, deinen Weg zu finden.«
    Er zog ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Ich bin immer bei dir«, hauchte er. Ein Krampf schüttelte seinen Leib, sein Blick wurde trüb. Dann erschlaffte der Körper, seine Arme sanken herab, die Hände fielen zu beiden Seiten des Ruhebetts zu Boden.
    Tahâma sah starr auf den leblosen Körper hinab. Sie konnte nicht singen, und es war ihr auch nicht möglich, ihrer Flöte nur einen einzigen Ton zu entlocken. Den Kristall in der Hand, saß sie nur stumm neben dem Toten. Ihr Verstand weigerte sich zu glauben, dass seine Geschichte nun zu Ende war. Der kluge Rothâo da Senetas, der mehr als einhundert Jahre im Rat der Drei die Geschicke der Tashan Gonar in Händen gehalten hatte. Zögernd küsste sie seine Stirn und schloss die türkisfarbenen Augen, deren Glanz für immer erloschen war.
    Der Tag verrann. Bewegungslos verharrte Tahâma neben dem Leichnam ihres Vaters und ließ ihre Gedanken wandern.
    Fröhliche Erinnerungen schweiften durch ihren Sinn, wundervolle Melodien, die sie zusammen gesammelt und in fein verzierte Kästchen verpackt hatten, um sie für die Ewigkeit zu bewahren. Es war ihr, als schreite sie wieder staunend neben dem Vater an den Regalreihen voller Musikschachteln entlang, die nun verwaist waren. Eine Stimme hallte durch ihren Sinn: Er ist tot, er hat dich verlassen, für immer. Nun bist du ganz auf dich allein gestellt.
    Es wurde Abend, die Sonne sank und tauchte den lieblichen Hain, in dessen Mitte das Dorf lag, in warmes Licht. Die spitzen blauen Dächer flammten in Purpur, die mit Blütenranken bemalten Wände schimmerten. Die letzten Strahlen drangen durch die vielfarbigen Fensterscheiben und brachen sich in den Kristallen der Windspiele, die vor jedem Haus standen und leise Melodien murmelten. Die Schatten krochen über das Dorf hinweg. Bald glühten nur noch Wolkenschleier am verblassenden Himmel.
    In der Stube wurde es dunkel. Das Feuer war längst heruntergebrannt, aber noch immer rührte sich Tahâma nicht. Erst als die Nacht hereinbrach und von den Berghängen wieder das Heulen der Wölfe erklang, schreckte sie aus ihren Gedanken. Nervös sah sie sich um. Wo sollte sie die Nacht verbringen? Wieder auf dem Schrank oben auf dem Dachboden? Noch hatten die Gnolle dieses Haus nicht durchsucht, aber sie gab sich nicht der Illusion hin, dass sie sich das prächtigste Haus des Dorfes entgehen ließen. Sie erhob sich. Ihr Blick strich über den Toten auf dem Ruhebett. Seine Gesichtszüge waren nun friedlich, als würde er nur schlafen.
    Sie konnte seinen Körper nicht einfach den Leichen fressenden Raubtieren überlassen! »Nein, ihr werdet ihn nicht bekommen!«, sagte sie. Auf den Dachboden schleppen konnte sie ihn allerdings auch nicht.
    Tahâma stieg in die Küche hinab und packte sich ein Bündel mit Honigbrot, Trockenfrüchten und einem vollen Wasserschlauch. In der Halle der Melodien füllte sie drei kleine Flaschen mit Kristallwasser aus dem
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