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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Jägers duckte sich Céredas seitlich weg. Schon war er auf den Beinen und schwang seine Axt. Das Tier, was immer es war, landete auf dem weichen Boden, drehte sich blitzschnell um und setzte erneut zum Sprung an. Céredas sah zwei grün glimmende Augen und einen Rachen mit langen Reißzähnen auf sich zuschnellen. Wieder wich er aus und schlug mit seiner Axt zu, doch er verfehlte den Angreifer. Mit einem tiefen Knurren kauerte der sich nieder und spannte sich zum nächsten Sprung. Für einen Augenblick erkannte der Jäger einen riesigen Wolf mit zottigem Fell und einem fürchterlichen Rachen. Wieder wollte er ausweichen, nun aber hatte der Wolf seine Finte durchschaut und sprang zur selben Seite. Die Reißzähne bohrten sich in Céredas’ linke Wade und brachten ihn zu Fall. Schmerz loderte in einer heißen Welle durch sein Bein, aber er ignorierte das aufsteigende Schwächegefühl. Er kniff die Augen zusammen, hob die Axt und ließ sie mit aller Kraft herabsausen. Das Gebiss an seinem Bein ruckte, dann lösten sich die Zähne aus seinem Fleisch, und das Tier stieß ein klagendes Heulen aus. Lautlos, wie er gekommen war, verschwand der Wolf wieder in der Nacht.
    Der Jäger unterdrückte ein Stöhnen. Nun, da die direkte Bedrohung vorbei schien, brandete der Schmerz mit aller Macht in sein Bewusstsein. Vorsichtig tastete Céredas über seinen linken Unterschenkel. Im Dunkeln erspürte er die Wunde und fühlte das klebrige Blut, das reichlich auf den Boden floss. Die Wunde schien tief zu sein, seine Knochen jedoch waren heil geblieben. Céredas zog sein Messer aus der Scheide und schnitt das zerfetzte Hosenbein bis zum Knie auf. Er trennte einen handbreiten Streifen vom Saum seines Umhangs und wickelte ihn fest um die verletzte Wade. Wieder jagte der Schmerz in brennenden Wellen sein Bein hinauf, doch noch immer gab der junge Mann keinen Laut von sich. Eine Weile saß er reglos da und wartete, bis das Pochen in der Wunde nachließ. Dann rutschte er zu einem dünnen Baum und zog sich daran hoch, bis er auf seinem rechten Bein stand. Behutsam belastete er den linken Fuß, aber ein Schwindel erfasste ihn und ließ ihn wanken. Schwer atmend klammerte sich Céredas an einen tief hängenden Ast.
    Sollte er hier auf dem Boden den Rest der Nacht zubringen? Wenn der riesige Wolf zurückkehrte, würde er eine leichte Beute abgeben. Céredas straffte den Rücken. Er würde kämpfen und sein Leben teuer verkaufen, doch hatte er gegen dieses Biest eine Chance?
    »Man hat immer eine Chance!«, sagte er leise zu sich selbst. »Du hast den Manticore besiegt und die Rubinotter getötet, du bist mutig und stark, und kein noch so großer Wolf kann dich das Fürchten lehren!«
    Dennoch war es gefährlich, noch länger an diesem Ort zu bleiben. War nicht der größte Feind des Jägers der Leichtsinn? Prüfend zog Céredas an dem kräftigen Ast, den er immer noch umklammert hielt. Vielleicht konnte er sich ja noch ein Stück weiter hinaufziehen, bis er vor den Klauen und Zähnen des Riesenwolfes in Sicherheit war.
    Céredas schloss beide Hände um den Ast und zog sich langsam hoch. Schwitzend und leise keuchend schwang er sich hinauf und blieb auf dem Ast sitzen, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Dann richtete er sich vorsichtig auf, um nach dem nächsten Halt zu suchen. Bald war er mehr als fünfzehn Fuß über dem Boden. Erschöpft kroch er zum Stamm hinüber, lehnte sich dagegen und schlief ein.
     
    Die Sonne ruhte noch hinter dem Horizont, doch Tahâma hatte ihr nächtliches Baumlager bereits verlassen und wanderte über die leicht gewellte Grasebene weiter nach Norden.
    Ein paar olivgrüne Grasböcke kreuzten ihren Weg, und ab und zu erklang der schrille Ruf der Erdhörnchen, die ihre Sippe vor einer drohenden Gefahr warnten, um dann blitzschnell in ihren Höhlen zu verschwinden.
    Tahâma eilte voran. Sie versuchte ihre Gedanken von dem zu lösen, was sie hinter sich ließ, und stattdessen an das neue, verheißungsvolle Land zu denken und an die Freunde, die dort auf sie warteten. Die Sonne schob sich blutrot über den Rand der Berge im Osten und wurde mit jeder Stunde, die sie höher stieg, blasser und heißer. Bald glühte der Staub, den Tahâmas Füße aufwirbelten. Der Durst brannte in ihrer Kehle.
    Zu Mittag rastete sie einige Minuten und erfrischte sich an einem Schluck Kristallwasser und einer Hand voll getrockneter Beeren, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Über ihr kreisten zwei Adler im flirrenden Blau. Tahâma lauschte ihrem
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