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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Ruf. Ein Musikstück kam ihr in den Sinn, und so summte sie die Töne im gleichmäßigen Takt ihrer Schritte. Am Nachmittag zeichnete sich der dunkle Saum des Silberwaldes am Horizont ab, wie es die beiden Reisenden aus Nazagur beschrieben hatten. Es war schon dunkel, als Tahâma den Waldrand erreichte. Wie in der Nacht zuvor wählte sie sich einen hohen Baum mit breiten Ästen als Lager und schlief tief und traumlos, den Baumstamm fest umschlingend.
    Am nächsten Morgen machte sie sich auf, den Wald zu durchqueren. An manchen Stellen sah er nicht anders aus als der Hain im Tal der Blauschöpfe, doch dann traf sie immer häufiger auf knorrige Bäume, deren Blattoberflächen mal scharlachrot, mal gelb oder orange leuchteten, während die Unterseiten wie reines Silber schimmerten. Es war, als liefe sie durch Bögen und Lauben aus kunstvoll gehämmertem Silberschmuck. Der Wind strich durch die Blätter und ließ sie klingen. Wie zarte Glöckchen hörte es sich an. Später säumten wieder Eichen und Buchen ihren Weg, und der Boden war von Farnen und Moos bedeckt.
    Eine Wegstunde weiter wichen die Bäume unvermittelt zurück und gaben den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Tahâma hielt inne. Plötzlich war ihr, als würde sie beobachtet. Langsam trat sie in die Schatten der tief hängenden Zweige zurück und sah aufmerksam um sich. Sie griff nach dem Stab mit dem blauen Kristall an der Spitze, obwohl sein Lichtschein ihr bei Tag sicher keinen Schutz bieten konnte. Noch einmal tastete ihr Blick das Buschwerk zu Füßen der Bäume ab und blieb dann an einem saftig grünen Schirmblattstrauch hängen. Was war das dort zwischen den riesengroßen Blättern? Starrten sie zwei braune Augen an?
    Tahâma zögerte noch einen Moment, dann trat sie auf die Lichtung, streckte den Kristallstab aus und rief: »Komm aus deinem Versteck. Ich habe dich längst gesehen!«
    Nichts rührte sich. Sie rief es noch einmal, diesmal jedoch nicht in Tashan Gonar, sondern in Hochphantäsisch, der Sprache, die alle Wesen in Phantásien verstanden. Die Wörter kamen ein wenig holprig heraus, aber sie war sich sicher, dass das Wesen, das sich dort im Busch verbarg, sie verstanden hatte.
    »Wenn du dich nicht sofort zeigst, werde ich dich mitsamt dem Busch in einem einzigen Lichtblitz vernichten!«, drohte sie, obwohl sie wusste, dass sie viel zu schwach war, Krisoduls zerstörerische Kräfte zu wecken. Aber woher sollte das Wesen im Busch das wissen, beruhigte sich Tahâma, deren Herz vor Aufregung heftig schlug.
    »Ich komme ja schon«, drang endlich eine Antwort aus der Tiefe des Buschs. Die schirmgroßen Blätter bewegten sich, dann tauchte ein schwarzhaariger junger Mann mit ockerfarbener Haut auf und musterte sie aus dunkelbraunen Augen. »Ich dachte immer, die Blauschöpfe wären ein friedliebendes Volk«, sagte er, und ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme. »Du bist doch eine von ihnen?« Er deutete auf das blaue Haar, das Tahâma nun mit Schwung auf den Rücken warf.
    »Ja, ich gehöre zum Volk der Tashan Gonar«, antwortete sie stolz. »Und du? Wer bist du?«
    Der junge Mann senkte den Kopf und legte seine rechte Hand an die Brust. »Céredas kin Lahim, ich bin ein Jäger aus dem schwarzen Felsengebirge einige Tagesmärsche weiter im Osten.«
    »Ein Jäger, so, so«, sagte sie und trat einige Schritte näher, ohne den Stab zu senken. »Was lockt einen Mann, dessen Volk das Jagen und Töten verehrt, in den Silberwald?«
    »Du brauchst das nicht so verächtlich zu sagen. Die Jagd ist eine hohe Kunst!«
    Tahâma verzog das Gesicht. »Unsere Verehrung gilt der Melodie, der Harmonie und dem Rhythmus. Wir lieben das Spiel des Windes in unseren Werken aus Saiten und farbigen Kristallen. Das verstehe ich unter Kunst! Wir leben in Frieden mit der Natur, ohne sie zu berauben und zu töten.«
    Céredas schürzte die Lippen. »Das ist ja sehr schön, und doch zielst du noch immer mit deinem Stab auf mein Herz, um mich zu töten, obwohl ich dich nicht einmal bedroht habe.«
    »In fremden Ländern ist Vorsicht geboten«, erwiderte Tahäma. »Tritt endlich aus deinem Busch heraus und zeige mir, was du unter deinem linken Arm verbirgst.«
    Umständlich schob der junge Jäger mit der rechten Hand einen Zweig zur Seite und humpelte dann, die linke auf einen starken Stock gestützt, auf die Lichtung hinaus. Eine Axt baumelte an seiner Seite, Rucksack, Köcher und Bogen hingen auf seinem Rücken.
    Tahâmas Blick wanderte zu dem zerfetzten Hosenbein und
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