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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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junge Mann die Hindernisse auf seinem Weg eher ahnte als sah und daher gezwungen war, seine Schritte zu zügeln. Dennoch war er nicht bereit, seine Reise für einige Stunden zu unterbrechen. Er fühlte sich noch frisch, war er doch erst drei Tage unterwegs und hatte die letzte Nacht auf einem Mooslager geruht. Außerdem war sein Auftrag so wichtig, dass er keinen Aufschub duldete. Céredas kin Lahim war stolz darauf, dass sein Volk ihn auserwählt hatte, diese Reise zu unternehmen. Er sollte zum Elfenbeinturm eilen, die Kindliche Kaiserin um Rat zu bitten. Sie musste den Jägern aus dem schwarzen Gebirge jenseits der gelben Steppe gegen das Nichts helfen, denn sonst würde es bald keine Felsen mehr geben, durch deren Täler und über deren Höhen die CoLahims ziehen konnten, um Bären und Riesenfelsböcke zu jagen.
    Trotz seiner jungen Jahre war Céredas schon ein erfolgreicher Jäger, davon zeugten die Zähne des Manticores, die er an einem Lederband um den Hals trug. Auch die giftige Rubinotter, mit deren rotschwarz gestreifter Haut er sein langes Haar zurückzubinden pflegte, hatte er selbst erlegt. Fast zehn Fuß war die Schlange lang gewesen, die sich auf ihrem kräftigen Schwanz aufrichten konnte, um dem Gegner ihr tödliches Gift in die Augen zu spucken.
    Der Rat der Co-Lahims bestand aus zehn Männern und Frauen, je zur Hälfte von den Ältesten und von jungen, kräftigen Jägern und Jägerinnen besetzt. Céredas war einer von ihnen und nun dazu auserkoren, sein Volk vor dem Nichts zu bewahren.
    Wie fast alle Männer und Frauen der Felsenjäger war Ceredas hochgewachsen – mehr als sechs Fuß groß und von muskulöser Gestalt. Seine Haut glänzte im Sonnenlicht wie gebrannter Ocker, seine Haare waren von tiefem Schwarz und seine Augen dunkelbraun. Die Brust wurde von einem weiten Lederhemd verhüllt, die sehnigen Beine steckten in Wildlederhosen von einem roten Hirsch, im Gürtel hing ein Jagdmesser, und an den Füßen trug er kurze, weiche Stiefel. Ein weiter Umhang verhüllte seine kräftigen Schultern. Der Bogen und ein Köcher voller Pfeile hingen mit einem kleinen Bündel über seinem Rücken, und in der Rechten trug er eine leichte Axt mit silbernem Blatt.
    Die Nacht schritt voran. Céredas blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. War er noch auf dem richtigen Weg? Schon lange war das Blätterdach so dicht, dass er die Sterne nicht mehr erkennen konnte, doch er hoffte wenigstens einen Schimmer des rötlichen Rubus zu entdecken, der um diese Nachtzeit im Süden stehen musste. Langsam drehte sich der junge Jäger um seine Achse, aber er konnte nicht einmal den kleinsten Schimmer des Mondes erspähen. Sollte er doch lieber hier rasten und auf die Morgendämmerung warten? In schnellem Schritt bei Tageslicht würde er den Zeitverlust rasch wieder gutmachen und riskierte nicht, von der Richtung abzukommen. Aber konnte man den Elfenbeinturm überhaupt mit Hilfe von Sonnen- und Mondenstand finden? Bewegte er sich nicht selbst, wie so vieles in Phantásien? Nicht zum ersten Mal huschte dieser Zweifel durch Céredas’ Gedanken, aber er schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt. Seine Mission war wichtig, und er sehnte nichts mehr herbei, als den Elfenbeinturm zu finden. Das allein musste schon genügen, um ihn auf kürzestem Wege dorthin zu führen.
    Céredas nahm Bogen und Köcher von der Schulter und warf sein Bündel zu Boden. Im Schneidersitz ließ er sich ins trockene Laub sinken, wickelte seinen Umhang fester um die Schultern und lehnte sich an die glatte Rinde einer Blutbuche. Die Axt noch immer fest in den Händen, schloss er die Augen. Sein Atem wurde ruhig und gleichmäßig, und doch blieben seine Sinne geschärft.
    Bewegungslos saß er eine Stunde da, als sich plötzlich seine Lider ein Stück hoben. Er hörte ein Käuzchen fast lautlos vorbeigleiten, der Wind säuselte in den Wipfeln, und irgendwo erklang das Fiepen einer Maus, aber da war noch etwas anderes. Etwas Bedrohliches, das langsam näher kam. Es bewegte sich geschmeidig und geräuschlos, dennoch spürte Céredas den vertrauten Schauder im Nacken, der ihn stets vor Gefahren warnte. Seine Hand spannte sich um den Stiel der Axt. Vielleicht hatte ihn das Wesen nicht bemerkt. Was es auch war, dachte er, vermutlich hielt es nach einer anderen Beute Ausschau.
    Céredas lauschte angestrengt. Kein Geräusch verriet ihm, in welcher Gestalt die tödliche Gefahr heranschlich. Plötzlich schnellte ein Schatten auf ihn zu. Mit dem Instinkt des
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