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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Brunnen, dessen schimmernde Schale auf einer Kugel aus gehämmertem Silber ruhte. Sorgfältig verstaute sie die Phiolen in ihrem Bündel. Sie waren ein kostbarer Besitz. Nicht nur konnte ein winziger Schluck den Durst eines ganzen Tages löschen, das Kristallwasser säuberte auch Wunden und erhellte, wenn man eine alte Weise dazu sang, einen trübsinnigen Geist. Nur gegen Gifte war es leider wirkungslos.
    Aus ihrer Kammer holte sich Tahâma einen langen Umhang, der aus dem gleichen fließend weichen Stoff gemacht war wie ihre Tunika. Auch er wechselte die Farbe, von zartem Flieder über tiefes Blau bis zu dunklem Violett, je nachdem, welche Tages- oder Nachtzeit herrschte. Der wundervolle Stoff wärmte nicht nur bei Kälte und kühlte in der Tageshitze, er war immer rein wie die Töne ihrer Windharfe, er hielt Schnee und Regen ab, und er machte seinen Träger im dämmrigen Licht des Morgens und des Abends nahezu unsichtbar. Tahâma wusste nicht, welches Lied die Frauen, die den Stoff einst webten, bei ihrer Arbeit gesungen hatten, aber bei jedem Schritt schienen leise Töne aus ihrem Gewand zu perlen.
    Noch einmal trat sie zu dem Toten, um von ihm Abschied zu nehmen. Sie bedeckte den Leichnam mit einem Seidentuch in tiefem Blau, der Farbe der Harmonie, die für die Tashan Gonar so wichtig war. Zu seinem Haupt und zu seinen Füßen zündete sie eine Totenkerze an, dann häufte sie Holz um seine Ruhestätte. Seinen knorrigen Stab, der den mächtigen blauen Kristall getragen hatte, legte sie auf seine Brust. Dann verbeugte sie sich vor dem Toten und stimmte sein Requiem an.
    Ihre Finger strichen über die Saiten der großen Harfe, die Flammen der Kerzen tanzten im Takt, sanftes Licht hüllte den Toten ein. Nachdem die letzten Töne längst verklungen waren, wogten die Harmonien noch lange durch den Raum.
    Der Abschied nahte. Noch einmal blieb Tahâma am Totenbett stehen. Wenn sie jetzt gehen würde, dann wäre es für immer. Das Brüllen eines Mordolocs ganz in der Nähe schreckte sie auf. Waren sie von der Musik oder vom Kerzenlicht angelockt worden? Nun konnte sie auch das Jaulen der Gnolle hören.
    »Ihr werdet immer bei mir sein, Vater«, sagte sie leise. »Eure Geschichte ist zu Ende, aber Ihr werdet wiederkehren. Als ein neues Wesen, in fremder Gestalt zwar, doch es wird Euer Lebensfunke sein, der in diesem Wesen weiterbrennen und eine neue Geschichte erzählen wird.«
    Sie hob ihren kaum armlangen Stab, löste den kleinen, klaren Kristall und befestigte stattdessen Krísodul an seiner Spitze. Mit dem blauen Kristall berührte sie einen der Holzscheite und sang eine scharfe Tonfolge. Sofort züngelten Flammen am trockenen Holz empor. Sie entzündete den Holzring an drei weiteren Stellen, dann eilte sie hinunter in die Küche und schlüpfte durch die Hintertür in den Blumengarten.
    Tahâma duckte sich hinter einen dichten Schmetterlingsblütenbusch, der im Hauch des Nachtwindes eine leise Melodie zirpte. Hier hinter dem Haus schien alles ruhig zu sein, doch vorn hörte sie die Schläge einer Axt, die in die mit Schnitzereien verzierte Eingangstür fuhr. Ihr Blick wanderte zum ersten Stock hinauf, wo hinter den Scheiben die Flammen emporschlugen. Es wurde Zeit zu gehen.
    Geduckt eilte Tahâma im Schatten der Häuser entlang. Ohne einem der durch die Nacht streifenden Räuber zu begegnen, erreichte sie den Wald, der den Ort in Form eines Sterns umgab. Leichtfüßig lief sie zwischen den in der Dunkelheit grünlich schimmernden Stämmen nach Norden, bis sie den jenseitigen Waldrand erreichte. Nun erst gestattete sie sich, für ein paar Atemzüge stehen zu bleiben und zu lauschen. Sie hörte den Wind in den Wipfeln rauschen und den Gesang eines Nachtvogels, aber nichts, was eine Bedrohung erahnen ließ.
    Dennoch war es zu gefährlich, hier am Boden auf den Morgen zu warten. Tahâma zog sich an einem der Stämme hoch und verschwand im dichten roten Blattwerk. Die Arme um den seidenglatten Baumstamm geschlungen, schlief sie, bis das Licht der Sonne sie wieder weckte.
     

Kapitel 2
Céredas
    In derselben Nacht, in der Tahâma ihr Dorf verließ, wanderte eine Gestalt etwa zwanzig Meilen nordostwärts durch den Wald. Am Abend war sie noch unter dem lichten Laub vereinzelt stehender Eichen dahingeeilt, doch nun, da es auf Mitternacht zuging, rückten die Stämme immer dichter zusammen, und die belaubten Kronen waren längst zu einem undurchdringlichen Blätterdach verschmolzen.
    Mittlerweile war es so dunkel, dass der
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